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Infotainment im Test: Mercedes MBUX

Autohersteller geizen mit Rechenleistung, davon konnte man bisher von wenigen Ausnahmen abgesehen immer getrost ausgehen. Doch mit dem Infotainment-System in A-Klasse und Sprinter gibt Mercedes jetzt richtig Gas in Sachen Rechenleistung, Entwicklungszeit und Software-Vertrieb

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Mercedes 28 Bilder
Lesezeit: 11 Min.
Von
  • Clemens Gleich
Inhaltsverzeichnis

Es hat mich immer wieder ebenso genervt wie gewundert, wie Autohersteller an Rechen-Hardware sparen, obwohl man gerade da die meisten Bangs for ze Bucks kriegt. Umso schöner, dass ausgerechnet Mercedes mit ihrem neuen Bediensystem "MBUX" (Mercedes-Benz User eXperience) richtig Gas gibt in Sachen Hardware: Das Infotainment-System verwendet in der Top-Ausstattung NVidias SoC Tegra "Parker", der für KI-, Drohnen und Auto-Anwendungen gedacht ist. Als Betriebssystem läuft ein auf dem Yocto Project aufbauendes Embedded Linux.

Auf dem Chip arbeiten sechs CPU-Cores: vier Arm Cortex A57 und zwei Denver 2. NVidia entwickelte die Denver-Architektur für stromsparende Performance, die weniger davon abhängt, ob Software für Multicore-Prozessoren optimiert wurde. Es erinnert ein bisschen an Transmeta, falls das hier noch jemand kennt. Dazu kommen 256 GPU-Rechenwerke aus NVidias Pascal-Generation. Das System hat Zugriff auf 8 GByte RAM. In den "Entry" und "Mid" genannten Ausstattungs-Levels des Systems kommt ein kleinerer SoC zum Einsatz, der nach etwas Nachbohren nach einem Tegra X1 klingt mit seiner big.LITTLE-Architektur und 256 GPU-Einheiten der Maxwell-Generation. Serienmäßig verbaut Mercedes 7-Zoll-Bildschirme, die in den großen Rahmen recht hässlich aussehen. Die schicken 10-Zöller unter einer Glausscheibe gibt es erst in der 3000 Euro teuren Top-Variante. Auf jeden Fall ist zum ersten Mal in einem Mercedes richtig Rechenleistung vorhanden, und wo sich das am meisten zeigt, ist die tolle Sprachsteuerung.

Sprich mich an!

Die meisten von uns kennen bereits Spracheingabesysteme für natürliche Sprache, zum Beispiel von Google, Amazon, Apple oder Microsoft. Bei Autos fällt mir als erstes BMW ein. Das Problem all dieser Systeme ist jedoch häufig: Die Fallback-Ebene im Offline-Betrieb ist entweder nicht vorhanden oder sie ist so viel schlechter, dass man sich wünscht, sie wäre nicht vorhanden. Dem Dilemma entkommt Daimler genau wie Google mit fetterer Hardware an Bord: Nutzer können mit dem MBUX ohne Netzverbindung genauso sprechen wie mit. Was offline fehlt, sind Online-Daten, also Dinge wie der Wetterbericht, Live-Verkehrsdaten oder die Öffnungszeiten am Zielort.

Brauche ich morgen einen Regenschirm?

Das heißt, Kunden von A-Klasse und Sprinter (die 2. Baureihe mit MBUX) können ab Auslieferung ihrem Infotainment-System Befehle in natürlicher Sprache geben. Ein Einlernen ist überflüssig. "Navigiere mich ..." funktioniert genauso wie "Fahr' mich ..." und viele Andere Formulierungen. Das geht weit herunter ins Weiche: "Brauche ich morgen einen Regenschirm / Flip-Flops?" funktioniert genauso wie "Wie wird das Wetter morgen?". Die Erkennungsleistung war in meinem Test fabelhaft, wobei man die A-Klasse noch nicht fahren darf, weil sie noch nicht ganz fertig ist für die Auslieferung. Trotz drei quersprechender Menschen im Auto und Lüftung an müssen wir die Erkennungsleistung natürlich noch einmal getrennt mit Fahrgeräuschen beurteilen. Vom Getesteten ausgehend bin ich jetzt schon sehr zuversichtlich.

Schlau genug

Was den meisten Mercedes-Lesern bereits bekannt sein dürfte: Das "Ok, Google" des Daimler-Konzerns heißt "Hey, Mercedes". Die Spracherkennung ist schlau genug, nur auf den Spruch zu reagieren, wenn danach eine bedeutungsschwangere Pause folgt. Grund: In Unterhaltungen in einem Mercedes taucht diese verbale Aktivierung sonst zu oft ungewollt auf. Das funktioniert so gut, dass auf der CES noch niemandem auffiel, dass auch "Hallo, Mercedes" oder auch nur "Mercedes?" mit Pause als Aktivierung erkannt werden.

Per Sprache lässt sich im Auto praktisch alles steuern, was Daimler nicht als sicherheitsrelevant ansieht. Unter sicherheitsrelevante Funktionen fallen Dinge wie Fahrhilfen und Einstellungen für die Fahrbedienung, also Fahrwerk, Lenkrad und Gaspedalkennlinie. Die Grenze verläuft wie immer arbiträr: Die Seitenfenster darf man als sicherheitskritisch nicht per Sprache öffnen, das elektrische Sonnendach dagegen schon.

So gut wie seit langem versprochen

Die meisten Systeme lassen sich jedoch per Sprache bedienen, und weil das so gut funktioniert, wäre das der erste Mercedes, in dem ich die Sprachsteuerung intensiv benutzen würde. Sie hält endlich die Versprechen, die wir seit Jahrzehnten über Sprachsteuerung im Auto hören: nicht mehr über die nötige Formulierungsstruktur nachdenken müssen. "Mir ist kalt." erhöht die Innenraumtemperatur. "Sind wir bald da?" verrät die Zeit bis Ankunft. "Wie weit komme ich noch?" triggert eine Sprachausgabe der Restreichweitenschätzung, genauso wie "Wann muss ich tanken?". Überhaupt gab es in meinem ersten Test, in dem sich das System ja nicht auf mich konkret einstellen konnte, nur eine Ungenauigkeit, die ich anders wollte: Bei "Spiel SWR3" fand er einen obskuren Medientitel im angeschlossenen iPhone, statt den hier beliebten Radiosender zu suchen. "Spiel Radio SWR3" funktionierte.

Erinnert an Googles Performance

Um die Bedienung weiter zu vernatürlichen, speichert das System auf Wunsch Zusatzangaben zur Kontaktliste, also Dinge wie "Boss/Chef", "Mutter/Mama" und so weiter. "Ruf meinen Chef an" fragt also beim ersten Mal nach, wer das ist und funktioniert ab da wie erwartet. Das Niveau des Nuance-Systems erinnert mich an die Performance von Googles System. Viel liegt wohl in der guten Mikrofon-Ausstattung begründet und es fühlt sich nahtloser an, dass der Mercedes-Assi meistens verbal antwortet, statt wie Google häufig ein Websuchenergebnis zu präsentieren. Aber sie spielen schon beide im Ballpark "reibungslos, nicht nervig". Ein größeres Kompliment kann man derzeit denke ich kaum geben. Damit Sie eine bessere Vorstellung erhalten, habe ich einige Beispiele als Video aufgenommen (enthält einen unkommentierten Fehler des Autos fürs Forum). Die Onboard-Spracherkennung läuft in dieser Form auf allen Boards, also auch auf Entry und Mid. [Update:] Daimlers Spracherkennungs-Chef meldet sich und widerspricht der Vor-Ort-Info: Spracherkennung gibt es nur auf Mid und High. Das Entry-Board ist wohl zu schwach dafür oder hat zu wenig RAM. [/Update]

Flache Hierarchie

Mercedes hat sich auf drei Hierarchieebenen beschränkt: die Top-Ebene, auf der die Icons liegen, die Hauptbedienebene der jeweiligen Anwendung und eine Einstellungs-Ebene für selten oder nur einmal benutzte Optionen. Die Anwendungen auf der Hauptebene können frei angeordnet werden. Unter dem großen Icon zeigt der Touchscreen zwei kleinere Buttons an, die dynamisch das zeigen, was jetzt wohl am wahrscheinlichsten gebraucht wird. Beispiel: Folgt das Navi noch keiner Route, steht hier ein Button für Zieleingabe; folgt es einer Route, steht hier ein Button für "Zielführung abbrechen".

Hat sich das System auf den Anwender eingelernt, bietet es ihm außer den beschriebenen kontextsensitiven Änderungen der Oberfläche auch konkret sogenannte "Prediction Features" an. Fährt der Fahrer also etwa jeden Donnerstagabend ins Fitnessstudio, schlägt das Fahrzeug ihm Donnerstagabends diese Route vor. Dasselbe gilt für Regelmäßigkeiten im Anruf- und Musikhörverhalten. Außer zeitlichen Regelmäßigkeiten gehen die Vorhersagen auch auf geographische Regelmäßigkeiten ein: Fährt der Wagen eine häufiger gewählte Route entlang, schlägt er deren Navigation vor – nützlich nicht nur bei Orientierungs-Unsicherheiten, sondern auch für Trip-Infos wie Ankunftszeit und Restkilometer. Alle Individualisierungen können für den Mehrfahrerbetrieb Personen-weise in Mercedes me gespeichert und von dort wieder abgerufen werden.

Die Hardware-Geschwindigkeit zeigt sich hier noch einmal in sehr flüssigen, latenzarmen Animationen und Echtzeit-3D-Ansichten in den Fahrzeugeinstellungen und auf dem Navi-Bildschirm (Sehenswürdigkeiten in 3D). Die Framerate gibt Mercedes nicht an, es sind aber wahrscheinlich die 60 fps, auf die NVidias Boards standardmäßig ausgelegt sind.

Navikauf over the Air

Auch das Navi hat sich im Vergleich zur vorherigen COMAND-Variante stark weiterentwickelt. Ich hege hier die Hoffnung, dass sich ein paar der Schwächen des alten Systems damit erledigt haben, zuvorderst unklare Abbiegeanweisungen, die obendrein häufig so spät kamen, dass es manchmal zu spät wurde. Das müssen wir aber in Fahrt ausprobieren, genauso wie das vollfarbige HUD.

Aufbauend auf Daten von HERE Maps stellt die Navi-Ansicht außer der Karte mit Route drauf auch Sehenswürdigkeiten in 3D dar. Die Echtzeit-Routeninformationsmarkierungen entlang der Route (also Stau / zäher Verkehr) sehen wie vorher aus, damit sich Mercedes-Kunden nicht umgewöhnen müssen. Das cleverste Feature hier ist eine Spurenanzeige als Augmented Reality: Ein Frontkamera-Feed wird eingeblendet, auf dem die zu wählende Spur markiert wird. Auch schön: Das System nimmt als Ziel gesprochene Koordinaten aus What3Words an, praktisch unter anderem bei Zielen oder Treffpunkten in der Pampa.

Das Navi taugt auch als gutes Beispiel dafür, dass sich Mercedes endlich dem Software-Verkauf öffnet: Es kann jederzeit als Software nachgekauft werden, sofern ein MBUX-Board im Wagen vorhanden ist. Wollte der Erstbesitzer bei der Bestellung kein Navi, kann er es vor dem Weiterverkauf nachkaufen, um den Marktwert zu erhöhen, oder ein Gebrauchtkäufer könnte es nach dem Kauf per Software nachrüsten. Mercedes will Schritt für Schritt weitere Software anbieten, die ersten Infos dazu kommen mit der Markteinführungs-PM der A-Klasse.

Ein weiteres Beispiel gibt es schon aus dem Sprinter: Dort können Lieferfirmen Logistiksoftware für das MBUX-Board erwerben, statt die üblichen separaten Kästen zu kaufen, die kaum mehr wissen über das Auto als die GPS-Position. Außer Daimler-eigener Software gibt es natürlich auch die Möglichkeit, Dinge über Apple Car Play oder Android Auto einzuschleifen.

Außenherum um den Touchscreen

Links neben dem Touchscreen sitzt in der Top-Ausstattung ein weiterer Zehn-Zoll-Schirm mit ebenfalls 200 dpi Auflösung. Da er hinter dem Lenkrad liegt, wird er nicht per Touch bedient, sondern mit den linken Lenkradarmaturen. Hinweis: Das gilt jetzt nur für die A-Klasse. Der Sprinter hat einen anderen Tacho. Der Tachobildschirm ist in drei Bereiche geteilt (links, Mitte, rechts), die separat in zu Anfang drei verschiedenen Grund-Designs recht frei mit Infos belegt werden können.

Der Fahrer kann sich also zum Beispiel links einen Zeigertacho, in der Mitte einen Routenrechner und rechts eine Zeigeruhr anzeigen lassen. Es gibt auch eine Navi-Ansicht, bei der die Karte alle drei Bereiche einnimmt. Nur die Geschwindigkeit steht dann noch als Zahl darüber – in Verbindung mit dem HUD und dem Touchscreen ein sehr gutes Setting fürs Reisen. Diese Funktion hat mir insgesamt sehr gut gefallen, weil es mich stört, wenn mir ein Tacho andere Infos gibt, als ich gerne möchte. Das einzustellen war aber auch das einzige, was sich nicht gleich intuitiv erschloss und etwas Erklärung brauchte – vernachlässigbar, weil man das Meiste hier ohnehin im Stand einstellen wird. Der Händler erklärt das sicher auch gern.

Während die linke Lenkradarmatur den linken Schirm bedient, weist Mercedes die rechte Lenkradarmatur dem rechten Bildschirm zu, genauso wie das Touchpad zwischen den Sitzen. Es erkennt geschriebene Buchstaben, etwa für die globale Suche – sehr wichtige Funktion für den chinesischen Markt. Ich hatte meine üblichen Probleme mit rechts schreiben als Linkshänder. Außer zum Schreiben taugt das Touchpad auch als Bedienung des Touchscreens, und wie immer im Auto kann jederzeit zwischen allen Eingabemethoden gesprungen werden, von der Spracheingabe zum Lenkrad zum Touchscreen zum Touchpad.