Urahn aller Drohnen: Erstflug der Œhmichen No. 2 vor hundert Jahren

Am 11. November 1922 ging der erste Multikopter in die Luft. Der Erbauer Étienne Œhmichen schaffte damit ein Fluggerät mit überbordender Mechanik.

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Étienne Œhmichen mit dem Oehmichen Hubschrauber Nr. 2 am 4. Mai 1924 in Valentigney (1 km Rundflug).

(Bild: Gemeinfrei)

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Das Schöne an modernen Multikoptern: Sie sind so wunderbar einfach aufgebaut. Ein Motor pro Rotor, der Pilot gibt die grobe Richtung vor und eine Software verteilt den nötigen Schub auf die verschiedenen Propeller. Ohne solch schlaue Elektronik wären Drohnen nicht denkbar – sollte man meinen.

Tatsächlich aber war ihr Urahn ein Gerät von atemberaubender mechanischer Komplexität. Erbaut hatte es der französische Ingenieur Étienne Œhmichen (1884 – 1955). Inspirieren ließ er sich dabei von Vögeln und Insekten, deren Flug er filmte und analysierte.

Bei seinen ersten Versuchen ab 1920 nutzte er noch einen großen Wasserstoffballon als Auftriebshilfe für seinen Senkrechtstarter. Erst sein "Œhmichen No. 2" setzte ganz auf das Prinzip "schwerer als Luft". Das Gerät wog rund eine Tonne und hatte vier große Tragrotoren aus stoffbespannten Flügeln mit Durchmessern von 6,5 und 7,5 Metern. Dazu kamen acht weitere Propeller mit rund 1,5 Metern Durchmesser zur Steuerung, Stabilisierung und für den Vortrieb – vier mit vertikaler und vier mit horizontaler Achse, jeweils paarweise angeordnet und gegenläufig rotierend. Sie alle wurden per Riemen von einem zentralen 180-PS-Sternmotor angetrieben.

Dieser Text stammt aus: MIT Technology Review 8/2022

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Das Erstaunlichste an dem filigranen Drehflügler: Er flog tatsächlich. Vor hundert Jahren, am 11. November 1922, erhob er sich zum ersten Mal in die Luft. Allerdings war jeder Flug ein Ritt auf Messers Schneide: Im Frühjahr 1923 stürzte Œhmichen ab, erlitt eine Gehirnerschütterung und verletzte sich am Handgelenk.

Doch knapp zwei Jahre und mehrere Hundert Starts nach dem Erstflug stellte Œhmichen einen Strecken-Weltrekord über 500 Meter auf. (Der Rekord wurde allerdings schon einen Tag später vom Argentinier Raúl Pateras Pescara überboten.) Am 4. Mai 1924 gewann Œhmichen einen Wettbewerb der französischen Luftfahrtvereinigung, bei dem es galt, einen tausend Meter langen Rundkurs abzufliegen und genau am Startplatz wieder zu landen. Damit gilt die Œhmichen No. 2 als erster zuverlässiger bemannter Senkrechtstarter.

Wie Œhmichen es geschafft hat, dieses ganze Orchester aus zwölf Rotoren zu dirigieren, geht aus seinem 1923 angemeldeten US-Patent 1.540.706 hervor: Die Anstellwinkel der Rotorblätter verstellte er per Seilzug über ein zentrales Steuerrad, das sich drehen, drücken, ziehen und kippen ließ. Je nach Bewegung sprach es jeweils die für Hoch-, Quer- und Längsachse zuständigen Rotoren an – und das Ganze völlig ohne Pedale.

Die überbordende Mechanik erwies sich allerdings als Sackgasse. Œhmichen selbst setzte später wieder auf eine Kombination aus Rotoren und Ballons – bis ihm das Geld ausging. Als Heinrich Focke und Georg Wulf 1935 den ersten gebrauchstauglichen Hubschrauber bauten, kam dieser mit zwei großen, gegenläufigen Rotoren aus. Wenige Jahre später etablierte Igor Sikorski das bis heute dominierende Design aus großem Hauptrotor und kleinem Heckrotor.

Multikopter blieben in den folgenden Jahrzehnten Exoten. In den 1950er-Jahren etwa gab die US-Armee bei Curtiss-Wright einen Senkrechtstarter in Auftrag, der ähnlich schlicht und robust sein sollte wie ein Jeep. Der daraufhin entwickelte Quadrokopter ließ sich tatsächlich relativ einfach steuern, brachte aber nicht die gewünschten Flugleistungen. Und 1969 versuchte sich der deutsche Hersteller Aerotechnik an einer Art fliegendem Motorrad mit vier Rotoren und einem BMW-Boxermotor. Der einzige verbliebene Prototyp hängt heute im Hubschraubermuseum Bückeburg.

Erst mit der Elektrifizierung bekamen Multikopter wieder Auftrieb – zunächst als ferngesteuerte Drohnen in allen erdenklichen Größen und künftig wohl auch als Flugtaxis. Elektronik macht auch eine große Zahl von Rotoren beherrschbar: Der zweisitzige Volocopter etwa kommt auf nicht weniger als 18 Rotoren – gesteuert über Kabel, nicht über Drahtzüge.

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(jle)