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Atomkraft: 10 Jahre Super-GAU in Fukushima und Deutschlands Kernkraftwendewende

Andreas Wilkens

Block 3 des AKW Fukushima Daiichi explodiert.

(Bild: Nippon TV)

Vor Fukushima meinte Angela Merkel, ein solcher Unfall passiere in einem Hightech-Land nicht. "Jetzt ist es eingetreten", sagte sie und verkündete den Ausstieg.

Am 11. März 2011 um 14.46 Uhr Ortszeit, 6.46 Uhr MEZ erschütterte ein Seebeben der Magnitude 9 den Norden der japanischen Hauptinsel Honshu. Das Epizentrum des Tohoku-Bebens lag 163 Kilometer entfernt vom AKW Fukushima Daiichi. Das Beben war die viertstärkste jemals auf der Erde registrierte seismische Erschütterung und stärker als alle zuvor in Japan gemessenen.

Vertikalbewegungen der Erdkruste setzten große Wassermassen in Bewegung. Um 15.27 Uhr und 15.35 erreichten zwei Tsunamiwellen die nördliche Ostküste der Insel [1]. 560 km2 Festland wurden überflutet, 20.000 Menschen wurden getötet oder vermisst, 160.000 Menschen mussten sofort in Notunterkünften untergebracht werden.

Die Kettenreaktion in den Reaktorblöcken 1 bis 3 des Atomkraftwerks Fukushima Daiichi, die zu der Zeit in Betrieb waren, wurde wie vorgesehen nach dem Beben schnellabgeschaltet. Durch das Erdbeben wurde das AKW vom öffentlichen Stromnetz getrennt, schildert das Bundesamt für Strahlenschutz [2]. Die Reaktorblöcke 1 bis 4 wurden von etwa 13 Meter hohen Tsunamiwellen getroffen; die höher gelegenen Blöcke 5 und 6 wurden rund einen Meter hoch überschwemmt. Durch die Tsunamiwellen wurden die Dieselaggregate, die Notstrom-Schaltanlagen, die Batterien und die Kühlwassersysteme für die Notstromdieselaggregate überflutet.

Dadurch fielen ab 15.36 Uhr mit wenigen Minuten Abstand in den Blöcken 1 bis 4 die Notstromdieselaggregate aus und damit die Kühlung der Brennelemente in den Reaktorkernen und den Brennelemente-Lagerbecken, die ebenfalls gekühlt werden müssen. Allein im Abklingbecken von Block 4 lagerten 292 Tonnen hochradioaktive Brennelemente, wie Greenpeace erläuterte [3]. In den Blöcken 1, 2 und 3 überhitzten innerhalb von drei Tagen die Reaktorkerne, Kernmaterial wurde über 2000 °C heiß und schmolz. Durch den Stromausfall war auch eine Überwachung der Anlagenparameter nicht mehr möglich.

Der Super-GAU von Fukushima (0 Bilder) [4]

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In den Blöcken 5 und 6, die sich wie Block 4 zu dem Zeitpunkt in Revisionsstilland befanden, fiel die Notstromversorgung ebenfalls größtenteils aus. Ein verbliebener Notstromdiesel wurde für die Blöcke 5 und 6 abwechselnd benutzt, dadurch konnten dort schwere Kernschäden vermieden werden. In den von der Naturkatastrophe betroffenen AKW Onagawa und Higashi-Dori richteten das Erdbeben und der Tsunami vergleichsweise geringe Schäden an, diese konnten gesichert werden.

In den Blöcken 1 bis 3 des AKW Fukushima Daiichi ereigneten sich nach partiellen Kernschmelzen, die zu hohen Temperaturen und chemischen Reaktionen führten, Wasserstoffexplosionen, die große Teile und Einrichtungen zerstörten oder beschädigten. Im Block 4 gab es ebenfalls eine Wasserstoffexplosion. Die vier Anlagen wurden vollständig zerstört, große Mengen Radioaktivität wurden in die Atmosphäre freigesetzt, insbesondere Radionuklide der Elemente Jod-131, Tellur-132, und Cäsium-134/137.

Während Jod-131 eine Halbwertszeit von acht Tagen und Tellur-132 von drei Tagen hat – das Zerfallsprodukt Jod-132 zwei Stunden –, weist Cäsium-137 eine Halbwertzeit von rund 30 Jahren auf. Cäsium-134 wurde ungefähr in gleicher Menge wie Cäsium-137 in die Luft freigesetzt, hat aber eine Halbwertszeit von zwei Jahren. Heute ist vor allem noch Cäsium-137 für die erhöhte Strahlung im Gebiet um das AKW Fukushima Daiichi verantwortlich; besonders das umliegende Bergland lässt sich schlecht dekontaminieren. Über den Blöcken 1 und 4 wurden provisorische Überbaukonstruktionen errichtet. Die Schäden an der Gebäudehülle von Block 2 sind beseitigt. Block 3 wird zurzeit eingehaust.

In der ersten Phase bis etwa Ende März 2011 wurden immer wieder sehr hohe Strahlungswerte gemessen. Vor allem in den ersten Tagen traten Spitzenwerte der Ortsdosisleistung (ODL) von bis zu 12 Millisievert pro Stunde auf – der gesetzliche Jahresgrenzwert für die Strahlendosis einer beruflich strahlenexponierten Person wäre in dem Fall bereits nach etwa 100 Minuten erreicht, schildert die Gesellschaft für Reaktorsicherheit [6].

Jod-131, Cäsium-134, Cäsium-137 und Strontium-90 wurden als Kontamination des zur Notkühlung eingespeisten Wassers freigesetzt. Große Mengen kontaminierten Wassers haben sich über Leckagen der Sicherheitsbehälter in den Gebäuden angesammelt. Im März/April 2011 floss stark kontaminiertes Wasser ins Meer.

Der Zufluss von Grundwasser in die Gebäude wurde inzwischen erheblich reduziert. Zudem läuft eine Reinigungsanlage für das kontaminierte Wasser, das aus dem Gebäude wieder austritt. Damit kann radioaktives Cäsium fast vollständig herausgefiltert werden. Das im Kühlwasser enthaltene Tritium lässt sich nicht mit den üblichen Reinigungsmethoden herausfiltern. Wasser, das nach der Behandlung nicht wieder zur Kühlung der Reaktoren eingespeist wird, wird daher auf dem Anlagengelände in verschiedenen Behältern zwischengelagert.

Der Unfall im AKW Fukushima Daiichi wurde auf die höchste Stufe 7 "Katastrophaler Unfall" auf der internationalen Meldeskala INES eingestuft, die bis dahin nur der Super-GAU von Tschernobyl im April 1986 erreicht hatte. Im September 2018 anerkannte die japanische Regierung den ersten Todesfall im Zusammenhang mit den Super-GAU. Ein früherer Mitarbeiter sei beim Einsatz an dem Unglücksreaktor atomarer Strahlung ausgesetzt gewesen und habe dadurch einen Lungenkrebs entwickelt. Der benachbarte Standort Fukushima Daini mit vier Reaktorblöcken kam ohne größeren Schaden davon und wurde auf der INES-Skala auf Stufe 3 eingeordnet.

Die Berichterstattung auf heise online vor zehn Jahren

Angela Merkel 2010 im Atomkraftwerk Emsland.

(Bild: dpa)

"Das Atomgesetz wird novelliert. Damit wird bis 2022 die Nutzung der Kernenergie in Deutschland beendet. Die während des dreimonatigen Moratoriums abgeschalteten sieben ältesten deutschen Kernkraftwerke und das seit längerem stillstehende Kraftwerk Krümmel werden nicht wieder ans Netz gehen", erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel am 9. Juni 2011, 90 Tage nach dem Super-GAU von Fukushima. 2015, 2017 und 2019 solle jeweils ein AKW vom Netz geht, bis 2021 drei weitere Kraftwerke. Die drei neuesten Anlagen können bis Ende 2022 laufen.

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Elf Jahre vor dieser Regierungserklärung der Bundeskanzlerin hatte die seinerzeit von Gerhard Schröder geführte rot-grüne Bundesregierung mit den Energieversorgungsunternehmen einen "Atomkonsens" vereinbart, nach dem im November 2003 das AKW Stade und im Mai 2005 das AKW Obrigheim endgültig abgeschaltet wurden. Die übrigen Atomkraftwerke hätten bis maximal 2020 laufen sollen. Im Herbst 2010 erhöhte die dann von CDU/CSU-FDP geführte Bundesregierung die Reststrommengen für die vor 1980 in Betrieb gegangenen sieben AKW für zusätzliche acht Betriebsjahre – auch als "Laufzeitverlängerung" bekannt; die anderen zehn Atomreaktoren erhielten Strommengen für zusätzliche 14 Jahre.

Am 17. März 2011, knapp eine Woche nach der Fukushima-Katastrophe, hatte die Bundeskanzlerin erklärt [10]: "Wir können und wir dürfen nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Wir gehen auch nicht zur Tagesordnung über, weder die Menschen in Deutschland – das zeigt das außergewöhnlich große Interesse an allen Sondersendungen im Fernsehen – noch die Politik. Auch die Bundesregierung kann das nicht, und sie ist nicht zur Tagesordnung übergegangen."

Deutschland könne zwar nicht von derart gewaltigen Erdbeben und Flutwellen wie in Japan getroffen werden, meinte Merkel. Die deutschen Atomkraftwerke gehörten zu den weltweit sichersten. Sie lehne es ab, die AKW in Deutschland abzuschalten, aber den Strom aus Atomkraftwerken anderer Länder zu beziehen.

In einem ersten Schritt sollten alle deutschen Atomkraftwerke noch einmal einer umfassenden Sicherheitsprüfung unterzogen werden, und zwar im Lichte der durch die Katastrophe von Fukushima entstandenen neuen Lage, erklärte Merkel am 17. März 2011: "Die bisher unbestrittene Sicherheit der deutschen Kernkraftwerke beruht auf der Einhaltung des Atomgesetzes, der auf dem Atomgesetz beruhenden Rechtsverordnungen und der erteilten Genehmigungen. Die Vorkommnisse in Japan haben jedoch gezeigt, dass Ereignisse auch jenseits der bisher berücksichtigten Szenarien eintreten können."

Am 9. Juni 2011 schließlich erklärte Merkel, das im Herbst 2010 von ihrer Regierung beschlossene Energiekonzept bleibe gültig: "Erreichen können wir diese Ziele nur durch einen tief greifenden Umbau unserer Energieversorgung, durch neue Strukturen und den Einsatz modernster Technologie." Die Leistungsfähigkeit der deutschen Industrie sei ein hohes Gut und müsse bewahrt und ausgebaut werden: "Denn ihr verdanken wir unseren Wohlstand."

Deutschland steige deshalb nicht einfach aus der Atomkraft aus, sondern schaffe die Voraussetzungen für die Energieversorgung von morgen. "Genau das hat es bislang so in Deutschland nicht gegeben", sagte Merkel. Die Novelle des Atomgesetzes, die Arbeit für ein Entsorgungskonzept, die Versorgungssicherheit und das Energiekonzept der Zukunft mit einer Hinwendung zu Erneuerbaren Energien seien eine Herkulesaufgabe – "ohne Wenn und Aber".

Als Begründung für die energiepolitische Neuausrichtung gab Merkel an, sie habe eine neue Bewertung vorgenommen: "Denn das Restrisiko der Kernenergie kann nur der akzeptieren, der überzeugt ist, dass es nach menschlichem Ermessen nicht eintritt. Wenn es aber eintritt, dann sind die Folgen sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Dimension so verheerend und so weitreichend, dass sie die Risiken aller anderen Energieträger bei weitem übertreffen." Vor dem Unfall von Fukushima habe sie das Restrisiko der Atomkraft akzeptiert, weil sie überzeugt gewesen sei, dass es in einem Hochtechnologieland mit hohen Sicherheitsstandards nach menschlichem Ermessen nicht eintritt. "Jetzt ist es eingetreten."

In der darauffolgenden Debatte [11] erwiderte Frank-Walter Steinmeier für die SPD, die Regierung habe mit ihrer innerhalb eines halben Jahres vollzogenen Kehrtwende eine energiepolitische Irrfahrt unternommen und Vertrauen zerstört. Was Merkel vorgelegt habe, sei nicht ein Gesetz zur Energiewende, "sondern es ist Ihr Irrtumsbereinigungsgesetz, das Sie jetzt auf den Weg bringen müssen".

Wenn es um Unterstützung von Merkels Regierung ginge, würde er zu jedem einzelnen Gesetz Nein sagen, erklärte Steinmeier. "Aber es geht um mehr. Es geht um die Wiederherstellung von Vertrauen – auch in der Energiepolitik. Es geht um die Wiederherstellung eines energiepolitischen Grundkonsenses, den diese Regierung in der Vergangenheit ohne jede Not zerstört hat."

Steinmeier zitierte eine Bundestagsrede des früheren SPD-Abgeordneten Hans-Jochen Vogel vom 14. Mai 1986, drei Wochen nach dem Super-GAU von Tschernobyl: "Es ist […] ein Gebot der Vernunft, die Energiepolitik, insbesondere die Kernenergiepolitik, in der Bundesrepublik […] von Grund auf neu zu überdenken. […] Die Nutzung der vorhandenen Kernkraftwerke ist nur noch für eine Übergangszeit zu verantworten." Es habe 25 Jahre gedauert, bis die heutige Regierung an diesem Punkt angekommen seien, merkte Steinmeier an. "Das ist eine bemerkenswerte Lernkurve, Frau Merkel. Dazu gratuliere ich."

Der Grüne Jürgen Trittin resümierte, Merkel beende damit auch einen persönlichen Kampf. "Zehn Jahre lang haben Sie gegen die Energiewende in Deutschland, gegen Energieeffizienz, Energiesparsamkeit und erneuerbare Energien gekämpft. Sie haben noch in der Bundestagswahl – ich zitiere – erklärt: 'Wenn ich sehe, wie viele Kernkraftwerke weltweit gebaut werden, wäre es jammerschade, wenn Deutschland aussteigen würde.'" Dabei bezog sich Trittin auf eine Rede der Kanzlerin auf dem Tag der Deutschen Industrie des BDI am 15. Juni 2009 [12].

Merkel übernehme die Laufzeitbegrenzung von Rot-Grün und packe einen Deckel drauf, damit die von ihr selbst verursachte Zockerei mit den Reststrommengen ein Ende habe, sagte Trittin. "Sie üben tätige Reue und schalten die sieben ältesten Atomkraftwerke plus Krümmel ab, die aufgrund eben dieser Zockerei noch am Netz sind. […] Sie schalten damit die Kraftwerke ab, die gegen einen Flugzeugabsturz überhaupt keinen Schutz haben."

Dass Merkel "ihre Fahne einrolle", sah Trittin als ein Erfolg der Anti-AKW-Bewegung und der Umweltverbände. Es sei ein Erfolg der Hunderttausende von Menschen, die auf Mahnwachen, auf Demonstrationen und Sitzblockaden für einen Ausstieg gestritten haben. "Frau Bundeskanzlerin, wenn Sie sich bei denen schon nicht entschuldigen wollen – dafür hätte ich ja Verständnis –, so finde ich, dass Sie sich heute bei diesen Menschen für die Nachhilfe hätten bedanken sollen, die sie Ihnen erteilt haben.

Auch in anderen Städten kam es in Folge des Super-GAUs zu Demonstrationen, so wie am 14. März 2011 in Hannover.

(Bild: heise online / kbe)

Am 12. März 2011 bilden Atomkraftgegner in Baden-Württemberg eine kilometerlange Menschenkette. Der Protest war lange geplant, der Widerstand gegen Atomkraftwerke ging in Deutschland schon über Jahrzehnte, spätestens seit den Planungen für ein AKW am Kaiserstuhl [13]. Nach dem Erdbeben in Japan bekommt er ungeahnte Aktualität, die nukleare Gefahr ist Realität.

Im Land der Menschenkette wird Winfried Kretschmann am 27. März 2011 der erste grüne Ministerpräsident Deutschlands – und setzt damit in Baden-Württemberg einer jahrzehntelangen CDU-Ära ein Ende. Weitere grüne Wahlerfolge sollten die politische Landschaft in Deutschland nachhaltig prägen.

"Ich kann das immer nur mit der Vorgeschichte erklären", sagt Jürgen Trittin, nach den Ereignissen jenes Frühjahrs gefragt. Als Umweltminister der rot-grünen Koalition brachte er den Atomausstieg auf den Weg: Deutschland, so steht es im Ausstiegsgesetz von 2002, solle bis 2021 kein AKW mehr betreiben. So war es vor der Laufzeitverlängerung geplant." Zur Kehrtwende der Kanzlerin nach Fukushima sagt der Grünen-Politiker, Merkels Qualität zeichne sich dadurch aus, "dass sie nicht zweimal gegen die gleiche Wand" laufe.

Aber die Wand hat es in sich. Die Laufzeitverlängerung erweist sich als Kernproblem. Schadenersatzansprüche von Betreiberfirmen hätte es ohne sie nicht gegeben, sagt Trittin. Es geht dabei um weggefallene Strommengen, mit denen die Konzerne Eon, RWE & Co. nach früheren Plänen gerechnet hatten und nicht mehr erzeugen durften.

Kurz vor dem zehnten Jahrestag haben sich die Energiekonzerne mit der Bundesregierung über eine Entschädigung geeinigt [14], die ihnen laut Bundesverfassungsgericht zusteht. EnBW, Eon/PreussenElektra, Vattenfall und RWE bekommen zusammen gut 2,4 Milliarden Euro für entgangene Reststrommengen und überflüssige Investitionen nach der Kehrtwende der Kehrtwende der Bundesregierung.

Wind- und Sonnenergie bekommen derweil einen historischen Schub. 2000 beträgt der Anteil der erneuerbaren Energien an der Bruttostromerzeugung noch 6,6 Prozent. Im vergangenen Jahr waren es nach Angaben des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft 44,6 Prozent. Bis 2030 will Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) bis zu 80 Prozent erreichen.

Parallel geht der Atomenergie-Anteil zurück. Aktuell sind noch sechs AKW in Deutschland am Netz. Anders in Ländern wie Finnland, die ihre Energieversorgung aus Überzeugung auf Nuklearenergie stützen. Auch China baut kräftig zu, Frankreich hat kürzlich grünes Licht für die Laufzeitverlängerung seiner ältesten Reaktoren gegeben [15]. Selbst im Super-GAU-Land Japan ist Ausstieg keine Option.

Ein deutscher Sonderweg? Oder Irrweg gar? Nein, sagt Jochen Flasbarth, Staatssekretär im Umweltministerium. Erneuerbare Energien würden immer günstiger, Atomenergie rentiere sich nicht, sei auch kein Beitrag zum Klimaschutz, sagt er übereinstimmend mit einer Studie, die die österreichische Regierung veranlasst hat [16]; das IDW hat zudem konstatiert, dass AKW zu störanfällig und unzuverlässig seien [17]. Diejenigen, die sich nach ihr zurücksehnten oder gar neue Reaktortypen anpriesen – wie zum Beispiel Bill Gates [18] –, nennt Flasbarth "Realitätsverweigerer". Für ihn ist klar: Einen Weg zurück kann es nicht geben. Auch wenn noch viele Fragen offen sind.

Etwa die nach einem Endlager für den hochradioaktiven Müll [19]. Weltweit gibt es ein solches noch nicht, in Deutschland soll bis 2031 eines gefunden sein. Die Vorsitzende des Bundestags-Umweltausschusses, Sylvia Kotting-Uhl, hält diesen Zeitplan für unrealistisch. Kritisiert wie viele Grüne auch das Tempo der Energiewende, dass in Deutschland weiterhin Uran angereichert werde und dass Brennelemente für den Export ins Ausland produziert würden [20] – auch über 2022 hinaus. "Wir werden noch über vieles diskutieren müssen", sagt Kotting-Uhl, die damals in den Stunden der Katastrophe in der Menschenkette stand

Auch zehn Jahre nach Fukushima reißt der Protest nicht ab. Klima- und Anti-Atom-Aktivisten sind alles andere als still – auch wenn sie derzeit keine Menschenketten bilden dürfen. Sie haben alte Sorgen und neue Fragen. Ob ihre Mobilisierungsmacht reichen wird, um Winfried Kretschmann erneut ins Amt zu tragen, wird sich am 14. März zeigen. Dann wird in Baden-Württemberg wieder gewählt.

Im Zuge des Umbaus 2008 bis 2011 wurde das Bremer Weserstadion mit Solarzellen verkleidet.

(Bild: heise online / anw)

Jahrzehntelang hatten die Energiekonzerne bestens davon gelebt, das gesamte Stromgeschäft zu kontrollieren – von der Erzeugung, über die Verteilnetze bis zum Vertrieb. Die großen Vier Eon, RWE, Vattenfall und EnBW verfügten über mehr als 80 Prozent der Kraftwerkskapazitäten in Deutschland. Das warf Milliardengewinne ab, insbesondere durch Großkraftwerke. Mit dem Ausstieg aus der Atomkraft und dem Start in die Energiewende erodierte dieses Geschäftsmodell.

Der Abriss der AKW kostet Milliarden, für die Zwischen- und Endlagerung des Nuklearmülls haben die Konzerne insgesamt knapp 24 Milliarden Euro an einen Staatsfonds überwiesen. Kritiker wie Jochen Stay von der Initiative "ausgestrahlt" bemängeln allerdings, die Konzerne hätten sich "von den Kostenrisiken der Atommüll-Lagerung mit einer Einmalzahlung freigekauft". Die Allgemeinheit müsse nun zahlen, wenn es teurer wird als gedacht.

Unter dem Druck tiefroter Zahlen spalteten sich die Marktführer Eon und RWE auf und teilten ihre Geschäftsfelder untereinander auf. Eon betreibt inzwischen nur noch die Energienetze und verkauft Strom und Gas, RWE produziert noch bis längstens Ende 2038 Strom aus Braunkohle und baut die Ökostromproduktion kräftig aus.

Im vergangenen Jahr kamen noch 12 Prozent des in Deutschland erzeugten Stroms aus Atomkraftwerken [21], 2010 waren es noch knapp 23 Prozent. Versorgungsengpässe hat das Abschalten der Reaktoren nicht ausgelöst. "Der Ausstieg aus der Kernenergie ist in Deutschland viel geräuschloser erfolgt, als man vor zehn Jahren gedacht hat", sagt der Energieökonom Prof. Andreas Löschel von der Universität Münster.

Atomstrom habe ohnehin durch die Energiewende keine dauerhafte Perspektive mehr, analysiert Löschel, der die Expertenkommission der Bundesregierung zum Monitoring der Energiewende leitet. "Mit der starken Zunahme der erneuerbaren Energien ist der Bedarf nach dauernd laufenden Kernkraftwerken sehr klein geworden." Da Atomkraftwerke wahrscheinlich in Zukunft nicht mehr rentabel betrieben werden wurde "in den Konzernzentralen der Kernkraft wohl nur eine Träne nachgeweint."

Drei AKW sind noch in Deutschland in Betrieb (7 Bilder) [22]

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Seit März 1984 ist Block C des AKW im bayerischen Gundremmingen in Betrieb. Block A war von 1967 bis 1977 in Betrieb. Der 1984 ans Netz gegangene Block B wurde am 31. Dezember 2017 abgeschaltet, Block C – ebenfalls 1984 in Betrieb genommen – folgte Ende 2021. (Bild: kkw-gundremmingen.de)

Anders als in der Braunkohle sind direkt in Atomkraftwerken vergleichsweise wenige Mitarbeiter beschäftigt. Bei RWE arbeiteten Ende 2010 in den damals noch fünf Blöcken der Atomkraftwerke rund 2700 eigene Mitarbeiter und Beschäftigte von Partnerfirmen. Ende vergangenen Jahres waren es in den beiden noch produzierenden RWE-Atomkraftwerken Emsland und Gundremmingen C gut 1500 Menschen. In den Braunkohlekraftwerken und Tagebauen von RWE fallen durch die ersten Schritte beim Kohleausstieg nach Unternehmensangaben bis Ende kommenden Jahres 3000 Stellen weg.

Für die Haushalte in Deutschland ist Strom in den vergangenen Jahren deutlich teurer geworden. Der Preisanstieg hat allerdings schon vor der schrittweisen Abschaltung der Atomkraftwerke eingesetzt. Nach Zahlen der Bundesnetzagentur verteuerte sich der Preis für eine Kilowattstunde von knapp 19 Cent im Jahr 2006 über gut 25 Cent im Jahr 2011 auf 32 Cent im vergangenen Jahr. Ein Hauptpreistreiber war dabei die EEG-Umlage zur Förderung des Ökostroms. Mit knapp 1 Cent pro kWh schlug die Umlage im Jahr 2006 zu Buche, aktuell zahlen die Haushalte 6,5 Cent.

Im Jahr 2012 wählten drei von vier Verbrauchern, die über das Vergleichsportal Verivox einen neuen Stromvertrag abschlossen, einen Ökostrom-Tarif. Doch in den folgenden Jahren sank die Nachfrage stetig, bis auf 32 Prozent im Jahr 2018. Seitdem zeigt der Trend wieder deutlich nach oben. Im Jahr 2020 betrug der Anteil der Ökostromwechsler bei Verivox 64 Prozent. Nach Fukushima habe die Abwendung von der Atomenergie im Mittelpunkt gestanden.

Die Stromerzeugung wird auf immer mehr Schultern verteilt – und das erfordert massive Investitionen. Zurzeit gibt es in Deutschland rund 2 Millionen Photovoltaik-Anlagen auf den Hausdächern, die Zahl der Windräder auf See und an Land soll kräftig aufgestockt werden. "Der Umstieg auf eine erneuerbare Erzeugung wird ohne Ausbau der Stromnetze nicht gelingen", mahnt der Chef der Bundesnetzagentur, Jochen Homann. Die Energiewende werde nur gelingen, wenn "die sichere Stromversorgung gewährleistet bleibt".

Energieökonom Löschel ist überzeugt, dass der Kohleausstieg wegen künftig stark steigender Preise für CO2-Zertifikate viel schneller gehen wird als geplant. "Deshalb brauchen wir rasch mehr Erneuerbare, mehr Netze und auch flexible Gaskraftwerke, um Schwankungen der Erneuerbaren auszugleichen." Hier kommen die großem Energiekonzerne wieder ins Spiel. "Sie werden auch künftig groß bleiben", betont Löschel. Denn die Investitionen in den Ausbau der Windenergie auf See, aber auch in Gaskraftwerke, Strom- und Wasserstoffnetze könnten nur sie stemmen. "Kleinere Unternehmen können das kaum finanzieren und dürften auch das Risiko nicht tragen wollen."

Fischer im Hafen von Soma in der Präfektur Fukushima.

(Bild: dpa / Everett Kennedy Brown)

"Zehn Jahre sind vergangen, und ich lebe noch", erzählt Akiko Iwasaki und hält inne. An jenem 11. März 2011 war sie nur knapp dem Tode entronnen, als das Tohoku-Beben ihr Gasthaus an einer Meeresbucht erzittern ließ und der Tsunami "wie ein wilder Drache" auf die Küste traf. Ganze Ortschaften, Schulen, Friedhöfe und riesige Agrarflächen versanken in den Wassermassen. Der Super-GAU im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi wurde zum Sinnbild der "3/11" genannten Dreifachkatastrophe.

Heute, zehn Jahre danach, betont die Regierung die Erfolge beim Wiederaufbau Tohokus und versichert, dass in der Atomruine alles "unter Kontrolle" sei. Zudem habe Japan, das seit jeher mit der tagtäglichen Gefahr durch Erdbeben konfrontiert ist, als Lehre aus der Katastrophe von "3/11" die weltweit schärfsten Standards für das Anfahren von Atommeilern eingeführt, beteuert die Regierung.

Heute seien alle Lebensmittel aus Fukushima, die auf den Markt kommen, vollkommen sicher, erklärte der Gouverneur von Fukushima, Masao Uchibori am Vorabend des 10. Jahrestages der Katastrophe und verweist auf Japans strenge Sicherheitsstandards für Lebensmittel.

Diese Botschaften will Japans Regierung der Welt auch zu den Olympischen Spielen im Sommer vermitteln. Dass viele Menschen in den Katastrophengebieten Tohokus jedoch auch zehn Jahre danach unter den Folgen der traumatischen Erlebnisse von "3/11" leiden, gerät im Rest des asiatischen Inselreiches dabei zunehmend in Vergessenheit.

Auch sie habe lange nur ihr eigenes Schicksal gesehen, sagt Iwasaki. Mit Schulden hat sie ihr vom Tsunami beschädigtes Gasthaus wieder aufgebaut. Dass viele andere Opfer im benachbarten Fukushima anders als sie entwurzelt wurden, sei ihr lange nicht bewusst gewesen. "Wir müssen zusammenhalten und nach vorne schauen", macht sie sich Mut.

"Tohoku hat sich nie wirklich vollständig erholt", erklärt Politikprofessor Koichi Nakano von der Sophia University Tokio der dpa. Die Bevölkerung ganzer Städte wurde umgesiedelt, was zum Verfall von örtlichen Gemeinschaften und zu Vereinsamung führte. Zwar hat der Staat mit einem gigantischen Aufwand weite Gebiete dekontaminieren lassen und die meisten Evakuierungsanordnungen inzwischen aufgehoben. Dennoch geht die Abwanderung, die es schon vor der Katastrophe im Zuge der Überalterung gab, weiter. "Viele Menschen fühlen sich zurückgelassen", erklärt Nakano.

Dass es auch in der Atomruine weiter gewaltige Probleme gibt, zeigte sich erst dieser Tage wieder, als in Folge eines erneut starken Erdbebens vor Fukushima die Kühlwasserstände in den drei zerstörten Reaktoren 1 bis 3 abfielen, was auf neue Schäden hindeutete. Zudem kam dabei ans Tageslicht, dass der Betreiberkonzern Tokyo Electric Power Company (Tepco) bereits seit einigen Monaten von zwei defekten Seismometern in einem der drei Reaktoren wusste – aber sie nicht reparieren ließ.

Der Lagerplatz für das radioaktiv belastete Kühlwasser wird knapp. Schon jetzt lagert Tepco 1,2 Millionen Tonnen kontaminiertes Wasser in 1043 Tanks. Davon enthalten 958 bereits gefiltertes Wasser, das aber noch Tritium enthält, und in 71 Tanks befindet sich hochradioaktives Wasser mit Cäsium und Strontium. Weil die zerstörten Reaktoren weiter gekühlt werden müssen und zusätzlich Regen- und Grundwasser in die Anlage eindringen, kommen täglich rund 170 Tonnen Kühlwasser hinzu. Japans Regierung will das Tritiumwasser ins Meer leiten. Dabei könnte es vor dem Ablassen ins Meer so weit verdünnt werden, dass die Aktivität unter 1500 Becquerel pro Liter sinkt. Eine Alternative wäre, das Wasser zu verdampfen.

Täglich arbeiten am AKW Fukushima rund 4000 Menschen beispielsweise daran, den Rückbau der zerstörten Reaktoren vorzubereiten und die Freisetzung von radioaktiven Stoffen weiter zu begrenzen, schildert die Gesellschaft für Reaktorsicherheit [24]. Aus den Blöcken 1 bis 3 muss das sogenannte Corium geborgen werden, eine Mischung aus geschmolzenen Materialien, die bei einer Kernschmelze entsteht. Sie besteht aus Kernbrennstoff und den Hüllrohren der einzelnen Brennstäbe, Steuerstäben, den Werkstoffen der betroffenen Teile des Reaktors sowie ihren chemischen Reaktionsprodukten mit Luft und Wasser.

Wird der Reaktordruckbehälter (RDB) vom Corium durchbrochen, kommt zu der Masse noch geschmolzener Beton vom Boden des Reaktorgebäudes dazu. Im Gegensatz zu den Brennelementen, die nach wie vor in den Lagerbecken ruhen, ist das Corium in unterschiedlichem Umfang aus den RDB ausgetreten und in die jeweils darunter liegenden Teile der Reaktorgebäude gelangt.

Vermuteter Ort des Coriums in den Blöcken 1 bis 3.

(Bild: Tepco)

"Es ist sehr schwierig, Aussagen darüber zu treffen, wo genau sich das Corium im Reaktorgebäude verteilt hat", erläutert die GRS [25]. Die 1533 Brennelemente aus dem Lagerbecken von Block 4 konnten hingegen bis Ende Dezember 2014 und bis Ende Februar 2021 alle 566 Brennelemente aus Block 3 geborgen werden. In Block 1 werden seit Januar 2018 Trümmer entfernt. In Block 2 laufen die Vorbereitungen, um eine Brennelemente-Entlademaschine zu errichten. Nach jetzigem Planungsstand sollen die letzten Brennelemente auf der Anlage im Laufe des Jahres 2031 geborgen werden.

Um mit dem Rückbau beginnen zu können, musste das Gelände erst aufgeräumt werden, es war völlig verwüstet. Gebäude waren teilweise zerstört, Strommasten abgeknickt und weite Teile des Anlagengeländes um die Reaktorgebäude herum mit Schlamm und Trümmern bedeckt. Die Strahlung behinderte die Aufräumarbeiten stark, das Gelände konnte nur mit Schutzausrüstung betreten werden, teilweise wurden ferngesteuerte Roboter eingesetzt [26].

Derweil müssen weiterhin Zehntausende Bewohner Fukushimas in Behelfsunterkünften leben. Ärzte beklagen eine andauernd erhöhte Rate an Depressionen, Selbstmorden sowie Posttraumatischen Belastungsstörungen unter Menschen in den radioaktiv verstrahlten Gebieten. "Es gibt eine direkte Korrelation zwischen dem Ausmaß der radioaktiven Belastung am jeweiligen Wohnort in der Präfektur Fukushima und dem psychosozialen Stress, dem die Bevölkerung ausgesetzt wurde", erklärt Angelika Claußen, Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und Europavorsitzende der Ärzteorganisation IPPNW.

Sie wirft der japanischen Atomindustrie und dem Staat zudem vor, unabhängige Forschung zu den Folgen des Super-GAUS zu unterdrücken. Bislang sei lediglich Schilddrüsenkrebs systematisch untersucht worden. Besonders betroffen in Fukushima seien Kinder, die im Jahr der Kernschmelzen noch im Mutterleib waren. Noch heute gibt es Mütter, die aus Sorge um ihre Kinder kein Leitungswasser trinken. Viele sind in Netzwerken organisiert. Tausende flohen aus Fukushima, wo die Landwirte weiter massiv darunter leiden, dass viele Menschen trotz aller Aufklärungsbemühungen einen Bogen um ihre Produkte machen.

Auf die gesundheitlichen Folgen in Folge der Evakuierungen wie Stress, Herzprobleme und andere Krankheiten geht eine Studie ein, die das UN-Strahlenschutzkomitee (UNSCEAR) [27] am 9. März 2021 anlässlich des zehnten Jahrestags der Katastrophe veröffentlicht. Es gebe aber in der japanischen Bevölkerung keine statistisch nachweisbare Schäden durch Verstrahlung. Die radioaktive Belastung erhöhe das Krebsrisiko der Bevölkerung nicht in einem Ausmaß, das eindeutig über normalen Werten liege.

Die Unsicherheiten und Ängste wegen der Gefahren der Strahlung zerstörten dennoch auch viele Ehen. Während vor allem Frauen und Mütter noch heute Angst haben und den Verlautbarungen des Staates und mancher Medien nicht trauen, treibt Männer vor allem die Sorge vor Arbeitslosigkeit um. Es gibt zudem Angst vor gesellschaftlicher Stigmatisierung und Diskriminierung – ein Phänomen, das in Japans Gesellschaft immer wieder auftritt, wenn Menschen Gesundheitsgefahren ausgesetzt sind. So auch jetzt wieder in der Corona-Pandemie.

Doch all diese Probleme sind im Rest des Landes zunehmend in Vergessenheit geraten. Das betrifft auch die vielen anonymen Arbeiter, die zur Dekontaminierung angeheuert wurden – darunter auch Obdachlose. Kritiker sprechen von Ausbeutung, doch niemand mache sich Gedanken über diese Menschen, die wie Aussätzige behandelt würden.

"Je weniger die Medien über die Probleme der Lokalbevölkerung berichten, desto mehr verschwindet das aus dem Bewusstsein der Menschen", erklärt Barbara Holthus, stellvertretende Direktorin des Deutschen Instituts für Japanstudien (DIJ) in Tokio. Zugleich aber habe die Katastrophe viele soziale Bewegungen aufkommen lassen. Dazu gehören all jene Freiwilligen, die sich noch heute vor allem um die seelische Betreuung der Menschen kümmern, die entwurzelt wurden.

Während die Katastrophe in Fukushima in Deutschland den Atomausstieg bewirkte, blieben in Japan grundlegende gesellschaftliche Veränderungen aus. Der kurz nach der Katastrophe an die Macht gekommene rechtskonservative Ministerpräsident Shinzo Abe habe in all den vergangenen Jahren ein politisches Klima in Japan geschaffen, "das einem potenziellen Ruck durch die Gesellschaft komplett entgegensteht", erklärt die Japanologin Gabriele Vogt. Abe wollte Japan "zurückholen" zu alter Stärke, ganz dem Image entsprechend, das die Welt von Japan hat. Auch diesem Ziel dienen die Olympischen Spiele.

Abe gelang es laut Beobachtern, dass die Opposition zersplittert und schwach da steht, die staatstragenden Medien noch zurückhaltender als zuvor schon geworden sind, und gerade viele Jüngere eine grundlegend apolitische Haltung an den Tag legen. Von den Massendemonstrationen bald nach der Katastrophe ist heute nichts mehr zu sehen. Zwar will die konservative Regierung unter Abes Nachfolger Yoshihide Suga die Treibhausgasemissionen bis 2050 auf Null reduzieren. Dennoch hält sie weiter an der Atomenergie fest. Auch die Kungelei zwischen Regierung und Atomindustrie – Kritiker sprechen vom "Atomdorf", zu dem viele auch Japans staatstragende Medien zählen – besteht weiter, wie der zum Zeitpunkt des Super-GAUs regierende Ex-Premier Naoto Kan betont.

Noch während seiner Amtszeit war Kan von einem Befürworter zu einem entschiedenen Gegner der Atomkraft geworden. Damit steht er nicht allein. In Umfragen befürwortet die Mehrheit der Japaner heute eine Abkehr von der Atomenergie, was auch beim lokalen Widerstand gegen das Wiederanfahren von Reaktoren zum Ausdruck kommt. Unter der Oberfläche "köchelt es – auf kleiner Flamme", sagt Expertin Holthus. Indessen wird mit der endgültigen Stilllegung des AKW Fukushima Daiichi für 2051 gerechnet.

Baukräne am AKW Fukushima Daiichi.

(Bild: IAEA)

Der damalige Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) betonte in der Bundestagsdebatte am 9. Juni 2011, anders als die bisherigen Atom-Katastrophen wie Tschernobyl sei die Katastrophe von Fukushima die Erste, die nicht auf menschliches, sondern auf technisches Versagen zurückzuführen sei. Gut vier Jahre später nahmen sich der Professor für Bau- und Umweltingenieurwesen Costas Synolakis von der USC Viterbi School of Engineering und PhD Utku Kanoğlu von der TU des Nahen Ostens in der Türkei Regierungs- und Unternehmensberichte zum Super-GAU von Fukushima vor. Sie resümierten, dass Arroganz und Unwissenheit, Designfehler, regulatorische Fehler und unsachgemäße Gefahrenanalysen in Fukushima am Werk gewesen seien. Es habe eine Abfolge von industriellen, regulatorischen und technischen Ausfällen gegeben.

Laut Synolakis und Kanoğlu [28] gab es Konstruktionsprobleme, die zu der Katastrophe geführt hätten und die lange vor dem Erdbeben hätten behoben werden müssen. In den vier beschädigten Atomkraftwerken Onagawa, Fukushima Daiichi, Fukushimi Daini und Toka Daini wurden durch den Tsunami laut der Studie 22 der insgesamt 33 Reservedieselgeneratoren zerstört, darunter 12 von 13 in Fukushima Daiichi. Von den insgesamt 33 Notstromleitungen zu externen Generatoren wurden alle bis auf zwei vom Tsunami zerstört.

Der Betreiber Tepco habe die Klippe am Standort des AKW Fukushima Daiichi abtragen lassen, um einfacher und kostengünstiger das Wasser aus dem nahen Meer nutzen zu können. Dabei habe Tepco potenzielle Tsunamihöhen unterschätzt und sich auf interne fehlerhafte Daten sowie unvollständige Modellierung gestützt. Zudem habe Tepco und Warnungen japanischer Wissenschaftler ignoriert, dass größere Tsunamis möglich seien.

Vor der Katastrophe habe Tepco geschätzt, dass der Wasserstand in Fukushima Daiichi höchstens auf 6,1 Meter ansteigt. Die Zahl scheint laut Synolakis und Kanoğlu auf der Annahme von Erdbeben der Magnitude 7,5 zu basieren, obwohl bereits Erdbeben der Magnitude 8,6 entlang der betreffenden Küste aufgezeichnet worden waren. Während der Katastrophe 2011 erreichten die Tsunamiwellen in Fukushimi Daiichi jedoch eine Höhe von schätzungsweise 13 Meter.

Das Erdbeben in Chile Ende Februar 2010, das die Magnitude 8,8 erreichte, hätte für Tepco eine letzte Chance sein können, einen Unfall in Fukushima zu vermeiden, sagte Synolakis. Tepco habe zwar Fukushima Daiichi erneut sicherheitsbewertet, sei dabei aber von 5,7 Meter als maximal mögliche Höhe eines Tsunamis ausgegangen; und dies wiederum gegen die veröffentlichten Empfehlungen einiger seiner eigenen Wissenschaftler.

Synolakis machte als ein Problem aus, dass Tepco alle Studien intern durchgeführt habe. Auch fehle es weltweit an Standards für eine Ausbildung, die auf Gefahren durch Tsunami gerichtet ist und eine spezielle Zertifizierung von Ingenieuren und Wissenschaftlern, die Gefahrenstudien durchführen – und ebenso für die Regulierungsbehörden, die sie überprüfen.

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Das benachbarte AKW Fukushima Daini unterscheidet sich von Daiichi laut Untersuchungen des Öko-Instituts [30] , dass wesentliche Einrichtungen des Zwischen- und Nebenkühlwassersystems in Nebenkühlwassergebäuden untergebracht sind. Sie seien damit deutlich robuster auch gegenüber "auslegungsüberschreitenden Überflutungsereignissen". Die an Daini gemessenen Erdbebenbeschleunigungen sowie die Höhe des Tsunami seien "signifikant geringer als am Standort Fukushima Daiichi" gewesen.

Tepco hatte inzwischen auch eingestanden, dass die Belegschaft des Atomkraftwerks nicht für den Fall trainiert gewesen war, wenn der Strom komplett ausfällt.

Die Fehleinschätzungen der Tepco-Führung hatte sich bis zum Katastrophentag selbst fortgesetzt. Masao Yoshida, Direktor des Atomkraftwerks von Fukushima Daiichi, setzte sich in den ersten Stunden nach dem Erdbeben über eine Anordnung seiner Arbeitgeber hinweg. Tepco wollte das Einpumpen von Meerwasser zur Kühlung der beschädigten Reaktoren anhalten, bis der damalige Ministerpräsident Naoto Kan über die Lage informiert sei. Yoshidas für Japan ungewöhnliche Gehorsamsverweigerung verhinderte Schlimmeres. Er setzte die Kühlung fort.

Yoshida wurde zunächst gemaßregelt, aber später von der Presse als Held gepriesen. "Ich dachte mehrmals, ich würde sterben", sagte er später über die dramatischen Stunden. Mitglieder des Sonderausschusses des japanischen Parlaments, der den Super-GAU untersucht hatte, glauben, dass ohne Yoshidas Entschlossenheit die AKW-Arbeiter nie die Kraft gehabt hätten, gegen die Auswirkungen des Unfalls anzugehen. Yoshida starb im Juli 2013 an Speiseröhrenkrebs.

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[8] https://www.heise.de/news/Nach-dem-Erdbeben-in-Japan-Unzaehlige-Tote-tausende-Vermisste-Notfaelle-in-AKWs-9-Update-1206928.html
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[17] https://www.heise.de/news/Schweizer-Atomkraftwerk-darf-Brennstaebe-aus-Deutschland-bekommen-5057849.html
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[27] https://unis.unvienna.org/unis/en/pressrels/2021/unisous419.html
[28] https://viterbi.usc.edu/news/news/2015/fukushima-disaster-preventable-philosophical-transactions-of-the-royal-society-costas-synolakis.htm
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