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Digital Health: "Gesundheitsdaten gehören auch dem Gesundheitssystem"

Christiane Schulzki-Haddouti
Futuristisches Bild von einem Arzt, der Daten einträgt

(Bild: PopTika/Shutterstock.com)

Die Interoperabilitäts-Expertin Sylvia Thun bricht im Interview mit heise online eine Lanze für die Forschung mit Gesundheitsdaten.

Sowohl die EU-Kommission als auch die Bundesregierung treiben nach der Pandemie die Digitalisierung des Gesundheitswesens voran. Viele Patientendaten können nicht nur in der Versorgung, sondern sollen auch pseudonymisiert und anonymisiert für die Forschung genutzt werden. Dafür setzt sich die renommierte Interoperabilitäts-Expertin Sylvia Thun ein, die an der Berliner Charité forscht und auch die Arbeiten großer IT-Konzerne wie Google und SAP im Gesundheitsbereich kennt.

heise online: "Meine Daten gehören mir! [1]" Fühlen Sie sich von diesem Slogan provoziert?

Sylvia Thun: Ja, denn wenn ich krank bin, bin ich darauf angewiesen, dass ich die bestmögliche medizinische Behandlung erhalte. Dann erwarte ich auch, dass die Ärzte mit qualitativ hochwertigen, evidenzbasierten Daten arbeiten.

Natürlich kann man daraus ableiten: Die Daten gehören nicht mehr mir allein, sondern auch einer Gesellschaft, die ethisch dahintersteht, dass Daten für die medizinische Forschung und Behandlung genutzt werden. Prinzipiell ist es natürlich richtig, dass personenbezogene Daten erstmal der Person selbst gehören. Aber man kann diese durchaus im Sinne des Gemeinwohls teilen.

Was sagen Sie zu dem Gerücht, dass ihre Studierenden Daten spenden müssen?

Wir machen natürlich Tests in unserem Testlabor und werten zum Beispiel EKG-Daten aus. Ich habe meine EKG-Daten gesammelt und abgegeben und drei weitere Mitarbeiter auch. Es muss natürlich kein Studierender Daten abgeben. Es ist aber so, dass wir ein juristisches Dokument mit einer Einwilligung haben ausarbeiten lassen und Daten anonymisieren. Wir hatten alle wunderschöne EKGs, aber die Testgruppe war zu klein und zu gesund. Natürlich kann man auch woanders Daten spenden, etwa an wissenschaftliche Projekte bei Apple. Das haben wir noch nicht erprobt. Auch das RKI führte während der akuten Coronazeit eine Datenspende via App ein, die gut genutzt wurde und Erkenntnisse generierten, die am RKI eingesehen werden konnten.

Mehr Infos

Sylvia Thun ist Universitätsprofessorin an der Charité in Berlin und Direktorin für E-Health und Interoperabilität am Berliner Institut für Gesundheitsforschung [2] (BIH) der Stiftung Charité. Die approbierte Ärztin und Ingenieurin für biomedizinische Technik forscht zur Nutzung von Forschungsdaten, etwa in der elektronischen Patientenakte und dem E-Rezept. Sie ist Expertin für nationale und internationale IT-Standards [3] im Gesundheitswesen. Sie leitet den InteropCouncil, das nationale Expertengremium für Interoperabilität.

Dahinter steht der Anspruch, dass Daten, wenn sie genutzt werden, gemeinwohlorientiert genutzt werden. Was muss erfüllt sein, damit die Daten gemeinwohlorientiert Verwendung finden? Der Nutzen muss im Vordergrund stehen. Wer hat welche medizinische und wissenschaftliche Fragestellung? Aber auch da gibt es einen Paradigmenwechsel: Man hat jetzt meist keine einzelne Frage mehr und schaut, wo die Antwort in den Daten zu finden ist. Vielmehr kann ich auf einer großen Daten-Plattform Veränderungen in den Daten beispielsweise aufgrund von Pandemien oder Wetterveränderungen sehen. Es lassen sich auch Modelle abbilden und Algorithmen darauf anwenden, um bislang unbekannte Fragen zu beantworten.

Können Sie das an einem konkreten Beispiel erklären?

Zum Beispiel kann man in den Datensätzen für Laborbefunde einen klaren Unterschied zwischen Männern und Frauen bezüglich Corona-assoziierter Entzündungsparameter sehen. Männer sind tatsächlich schwerer krank. Vielleicht gibt es ja sogar eine "Männergrippe", aber für deren Erforschung braucht man weitere Daten.

Beruhen nicht viele Behandlungsleitlinien auf Daten, die ein geschlechtsspezifisches Bias haben?

Dazu gab es in den vergangenen fünf Jahren immer mehr Publikationen in fast allen Bereichen der Medizin. So hat man etwa aufgrund von Datenanalysen festgestellt, dass die Symptome bei einem Herzinfarkt bei einer Frau komplett anders [4] sind als bei einem Mann. In den Leitlinien und Lehrbüchern nimmt man aber bis heute an, dass die Symptome gleich sind, wobei man von den Symptomen des Mannes ausgeht. Dementsprechend kommt es dann zu Fehlbehandlung, was tatsächlich zu mehr Todesfällen bei Frauen [5] führt.

Ein Datenbias mit tödlicher Wirkung?

Ja, der Bias erfolgt, weil die meisten Arzneimittel an mittelalten Männern getestet wurden. Hinzu kommen die Dosierungen, die bei Männern und Frauen fast immer gleich sind. Ich vermute: Wir Frauen sind systematisch überdosiert. Die Dosierung wird schon in der klinischen Studie in der Regel nicht thematisiert. Doch in den großen Datenmengen, die man zur Verfügung hat, könnte man tatsächlich im Nachgang feststellen, inwieweit Frauen durch eine Überdosierung stärkere Nebenwirkungen erleiden.

Wie hoch ist der Korrekturbedarf?

Das lässt sich aktuell noch nicht abschätzen, aber man könnte diese Daten einmal abfragen. Man muss wissen, dass bis 1994 Frauen in klinischen Studien gar nicht zugelassen waren – wegen des Contergan-Skandals in den 1960er Jahren. Erst in den 1990ern wurde man darauf aufmerksam, dass es Frauen benachteiligt, wenn zugelassene Arzneimittel nicht an Frauen, an weiblichen Mäusen oder an weiblichen Zelllinien getestet werden.

Wer kuratiert die Daten?

Zunächst müssen natürlich diejenigen so ausgebildet werden, dass sie ein Bewusstsein dafür bekommen, dass es in den Daten möglicherweise einen Bias gibt [6]. Häufig stammen die Daten von Soldaten – weshalb man etwa in der Nierenforschung in den USA (Acute Kidney Injury Alert) die Daten der sieben Prozent Frauen am Gesamtdatensatz neben sieben Prozent der Männerdaten legt und den Rest verwirft. Klar ist jedenfalls, dass wir mehr Mathematiker bei uns benötigen, insbesondere für KI-Anwendungen.

Was sind die größten Herausforderungen bei der Sicherung von Datenqualität? Wo stehen wir da heute?

Das größte Problem ist, wenn Daten gar nicht erhoben werden. Wenn sie erhoben werden, stellt sich die Frage nach dem Wie. Wenn es keine klinischen Daten gibt, kann man sich an die Abrechnungsdaten der Krankenkassen halten. Das ist strukturiertes XML mit vorgegebenen Begriffen. Für medizinische Dokumente sind diese Abrechnungsdaten aber nicht ausreichend. Da fehlen insbesondere viele seltene Erkrankungen. Die Betroffenen sind dann nicht sichtbar, weil sie nicht mit einer entsprechenden Terminologie dokumentiert und abgerechnet werden.

Wie sollte die elektronische Patientenakte (ePA) aussehen?

Es ist wichtig, dass eine Patientenakte eine Akte des Patienten für den Patienten ist – von den behandelnden Menschen und den Bürgern erstellt. Der Patient benötigt seine Medikation, seine Diagnosen und weitere Informationen des Arztes. Derzeit haben wir eine ePA, die von den Krankenkassen zur Verfügung gestellt wird.

Wir brauchen eine echte medizinische, pflegerische, therapeutische Fachakte: Wie in Holland oder Finnland muss der fachliche Sachverhalt in die Patientenakte von den Medizinern, Pflegediensten und Therapeuten in die Patientenakte eingepflegt werden, sofern der Mensch das möchte. Das ist der eigentliche Weg, den wir gehen sollten.

Was bedeutet das, wenn die Krankenkassen die ePA einrichten?

Es werden Abrechnungsdaten der Krankenkassen hochgeladen, aber diese Daten sind nicht nur unvollständig, es fehlen jegliche andere Daten außer den Abrechnungsziffern, die auch sehr skurril anmuten. Möglicherweise kodiert ein Behandelnder einen Herzinfarkt gemäß Kodierrichtlinien, aber am Schluss stellt sich heraus, dass es kein Herzinfarkt war. Entsprechend hat die ePA dann einen Abrechnungsbias. Das größte Problem ist, dass die Bürger damit überfordert sind und den Unterschied zwischen Abrechnungsdaten und medizinischen Daten nicht einordnen können.

Wie brauchbar ist die ePA, so wie sie 2025 kommen soll?

Gut ist, dass die ePA einen Dokument-Standard befolgt, der IHE-konform ist [Anm. d. Red.: Integrating the Healthcare Enterprise ist eine Initiative für Interoperabilität im Gesundheitswesen]. Damit können Dokumente, wie etwa Arztbriefe sicher ausgetauscht werden. Die Softwaresysteme der Arztinformationssysteme-Hersteller können das leider noch nicht alle. Aber wir haben an der Charité zum Beispiel seit einigen Wochen die Möglichkeit, Arztbriefe oder weitere Vorbefunde aus der ePA in die Patientenakte unseres Krankenhaus-Informationssystems einzulesen. Damit können wir sofort Vorbefunde sowie Befunde der ambulanten Fachärzte sehen, sofern ein Einverständnis des Patienten erfolgt ist.

Welches System nutzen Sie an der Charité dafür?

Wir nutzen i.s.h.med und SAP-Komponenten an der Charité sowie unzählige Spezialsysteme, die größtenteils angebunden sind an unsere Krankenhaus-Informationssysteme. SAP hat jedoch angekündigt, in einigen Jahren den Support für i.s.h.med auslaufen zu lassen.

Wie sieht es mit Wearables von Fitnesstrackern und Smartwatches aus, sollten diese perspektivisch auch in der ePA landen?

Die Sensoren der neuen Smartwatch-Generation für das EKG und das Continuous Glucose Monitoring von Subanbietern sind bereits sehr gut. Diese Daten bräuchte man auch in einer Patientenakte, aber natürlich nicht jeden Datenpunkt.

Wie könnten die Messungen von Wearables in der ePA nutzbar gemacht werden, über Aggregation und Analyse?

Man würde dem Arzt nur die auffälligen EKG-Daten zeigen wollen. Das Gute ist, dass die Smartwatch dauerhaft misst und ich dann zum Beispiel in einem längeren Zeitraum auch um drei Uhr nachts eine Auffälligkeit registrieren kann. Man kann aber auch Algorithmen auf die Datenreihe legen und bestimmte Veränderungen, wie eine Herzrhythmusstörung anzeigen, die dann in der ePA dokumentiert wird.

Wie kommen diese Ereignisse dann in die ePA?

Die Frage ist: Was sind wichtige Daten? Dafür gibt es den ISO-Standard zur International Patient Summary [7], an dem wir Deutschen mitgewirkt habe. Er ist über die Weltgesundheitsorganisation inzwischen weltweit anerkannt. Hier gibt es eine Kurzakte, die das Wichtigste auf einen Blick in strukturierter Form zeigt. Bei einem Vorhofflimmern im EKG könnte man die relevanten Datenpunkte in die EPA ziehen. Oder man schreibt einfach eine ICD-Ziffer zu "Vorhofflimmern vor drei Wochen" hinein.

Das Bundesgesundheitsministerium hat kürzlich auch die Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGAs) ins Spiel gebracht.

Natürlich lassen sich so auch die Daten aus den DiGAs in die ePA überführen, die dann zur Krankenkasse durchlaufen. Bei diesem Szenario hätten die Medizinprodukte-Hersteller ein Wort mitzureden. Es geht ja nicht nur darum, wie man mit Daten und mit dem Patientenwillen umgeht, sondern wie man auch mit Patenten, IP-Rechten sowie unerwünschten Vorkommnissen in den Produkten umgeht.

Es gibt in der Gesundheitsdaten-Nutzung einen starken Wettbewerb zwischen den großen Tech-Konzernen und den traditionellen Medizinprodukte-Herstellern. Sehen Sie das kritisch?

Ich habe weder Angst vor Big Tech, noch habe ich den Eindruck, dass das gerade massiv in die falsche Richtung läuft, weil dort große Daten- und Security-Expertise aufgebaut wurde. Eher habe ich den Eindruck, dass wir ohne Zusammenarbeit hierzulande über kurz oder lang einen Riesennachteil haben: Wir haben nämlich kein Wissen mehr, weil wir die Daten nicht nutzen dürfen und diese auch nicht mit der Industrie geteilt werden.

Wie ist das bei Ihnen an der Charité?

Die Patientendaten bleiben in der Charité, weil wir in der Medizininformatik-Initiative dezentrale Datenplattformen gebaut haben. Diese Daten gehen als anonymisierte Analysen ohne jeglichen Namen raus. Das wäre bei Herstellern genauso – wir besprechen gerade Lösungen zur Harmonisierung mit Google Health, aber leiten keine Daten aus.

Was natürlich passieren kann, ist, wenn ich heute über Facebook oder Amazon etwas bestelle und die merken, dass ich Husten oder eine chronische Erkrankung habe, dass die mir dann die entsprechende Werbung präsentieren. Gemäß Gesetz SGB V dürfen sie die Daten der ePA aber nicht nutzten. Das ist verboten.

Was machen Sie mit Google Health?

Wir schauen, welche Tools wir benötigen, um Daten besser auszuwerten: zum Beispiel der FHIR Mapper, der ungeordnete, nicht standardisierte Daten in eine FHIR-konforme Form bringt. Wir hätten damit einen schnelleren, effizienteren Zugriff auf unsere Patientendaten, die in unserem SAP-System und den Subsystemen sind.

Wie stellen sich die Medizingeräte-Hersteller hier auf und wie kommen dann so große Konzerne wie Apple ins Spiel?

Wir erarbeiten die internationalen Standards, damit die Daten überhaupt von A nach B fließen können. Da sind Apple, Google und AWS – aber auch die KIS-Hersteller sowie die Ministerien und Wissenschaftler. Wir arbeiten in der sogenannten HL7-Standardisierungsorganisation (Health Level Seven) zusammen, um die Daten von A nach B in einer qualitativ hochwertigen Art und Weise zu überführen.

Auch der Bundesverband Medizintechnologie BVMed [8] hat in seiner Stellungnahme zum Gesundheitsdatennutzungsgesetz [9] (GDNG) oder zu den DiGA-Verordnungen die Auswertung und Nutzung der Daten durch Krankenkassen kritisch angesprochen. Die Krankenkassen sollen sogar nach derzeitigen Gesetzesentwürfen nach § 25b GDNG Therapie- und Präventionsempfehlungen aussprechen können, ohne die Behandler zu informieren

Wie sieht die politische Gemengelage aus?

Es ist extrem wichtig, dass Forschende und Behandelnde mit den Gesundheitsdaten arbeiten können und dass die Daten der Krankenkassen endlich genutzt werden – nicht zur Überprüfung der Abrechnungen von Ärzten und Krankenhäusern, sondern für die Prävention. Aber wir Ärzte und Wissenschaftler haben auf diese Daten erstmal keinen Zugriff. Also nützt uns das wenig. Warum darf ein Krankenkassen-Mitarbeiter mehr Informationen haben als der behandelnde Arzt oder ein Wissenschaftler in Deutschland? Die Krankenkassen haben sich damit relativ viel Datenhoheit durch das Digitalgesetz und das Gesundheitsdatennutzungsgesetz geholt.

(mack [10])


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-9540075

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/news/Ethikratvorsitzende-Alena-Buyx-Datenschutz-wird-zu-Unrecht-gescholten-7818228.html
[2] https://www.stiftung-charite.de/die-gefoerderten-im-detail/prof-dr-sylvia-thun
[3] https://www.bihealth.org/de/aktuell/sylvia-thun-setzt-standards-fuer-medizinische-daten
[4] https://www.riffreporter.de/de/wissen/herzinfarkt-geschlecht-herzkrankheiten-frauen-maenner-zahlen-statistiken
[5] https://www.gbe-bund.de/gbe/ergebnisse.prc_tab?fid=6770&suchstring=&query_id=&sprache=D&fund_typ=TAB&methode=&vt=&verwandte=1&page_ret=0&seite=1&p_lfd_nr=1&p_news=&p_sprachkz=D&p_uid=gastd&p_aid=35520101&hlp_nr=2&p_janein=J#tab3
[6] https://www.heise.de/news/KI-als-Entscheidungshilfe-fuer-Aerzte-Ethikerin-warnt-vor-Computerpaternalismus-9340370.html
[7] https://www.iso.org/standard/79491.html
[8] https://www.bvmed.de/de/bvmed
[9] https://www.heise.de/news/Datenschutzkonferenz-fordert-klare-Regelungen-bei-Forschung-mit-Gesundheitsdaten-9538284.html
[10] mailto:mack@heise.de