Eine neue Art zu Lernen

Nicholas Negroponte verteilte Tablet-Computer in zwei abgelegenen Dörfern in Äthiopien – und entdeckte: Kinder können sich ohne Lehrer weitaus mehr beibringen, als ihnen üblicherweise zugetraut wird.

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  • Nicholas Negroponte

Nicholas Negroponte verteilte Tablet-Computer in zwei abgelegenen Dörfern in Äthiopien – und entdeckte: Kinder können sich ohne Lehrer weitaus mehr beibringen, als ihnen üblicherweise zugetraut wird.

Negroponte, 69, ist Gründer des MIT Media Lab sowie Vorsitzender der "One Laptop per Child Foundation".

Ich glaube, dass wir Probleme bekommen, wenn wir Wissen mit Lernen gleichsetzen. Der steile Aufstieg des modernen Instruktionismus, der praktisch unbegrenzte Unterstützung von Bill Gates, Google und dem Massachusetts Institute of Technology bekommt, ist gefährlich – ebenso wie der Irrglaube, dass es einen perfekten Weg gebe, jemandem etwas beizubringen.

Ich trete für einen Ansatz ein, der zwischen "lernen" und "etwas beigebracht bekommen" unterscheidet. One Laptop per Child (OLPC), die von mir gegründete Non-Profit-Organisation, hat 2005 den sogenannten XO Laptop herausgebracht; unter anderem sollen Kinder sich mit seiner Hilfe das Programmieren selbst beibringen. Heute sind 2,5 Millionen XOs in den Händen von Kindern mit 25 unterschiedlichen Sprachen in 40 Ländern. In Uruguay haben alle 400000 Kinder einen XO-Laptop; in der Schule wird erwartet, dass sie ihn programmieren können. Dasselbe gilt jetzt für Estland. In Äthiopien schreiben 5000 Kinder Programme in der Sprache Squeak.

OLPC steht für weltweit eine Milliarde Dollar Umsatz seit 2005, ist also größer, als viele denken. Und was haben wir bei unserer Arbeit gelernt? Dass Kinder sehr viel ganz von allein lernen. Die Frage ist nur: wie viel genau?

Um diese Frage zu klären, haben wir unsere Aufmerksamkeit den 100 Millionen Kindern weltweit zugewandt, die nicht einmal eine Grundschule besuchen. Bei den meisten von ihnen ist der Grund dafür, dass es in ihrem Dorf weder eine Schule gibt noch irgendwelche Erwachsenen, die lesen und schreiben können; Änderung ist kaum in Sicht. In zwei derartigen Dörfern haben meine Kollegen und ich ein Experiment begonnen: Können sich Kinder das Lesen selbst beibringen?

Dazu haben wir jedem Kind in zwei äthiopischen Dörfern ein voll ausgestattetes Xoom-Tablet von Motorola zur Verfügung gestellt, ohne jede Anleitung oder Handbücher. Die Tablets verfügen über ein Solarmodul, denn eine andere Stromversorgung gibt es in den Dörfern nicht. Auf ihnen installiert ist eine Auswahl von Spielen, Büchern, Comics und Filmen – nur um zu sehen, wofür sich die Kinder interessieren, und ob sie herausfinden, wie es funktioniert. Was mit den Tablets gemacht wird, erfahren wir, indem jede Woche zwei Leute zu den Kindern kommen und die Speicherkarte in ihren Xooms austauschen.

Beim Auftakt des Projekts wurden die Tablet-Computer innerhalb von Minuten nach ihrer Ankunft ausgepackt und angeschaltet. Nach einer Woche benutzten die Kinder im Durchschnitt 47 unterschiedliche Apps am Tag. Nach der zweiten Woche traten sie in Spielen gegeneinander an und versuchten, möglichst schnell das Alphabet aufzusagen.

Ob sie dadurch wirklich richtig lesen lernen, muss sich noch zeigen. Aber wenn ein Kind lernen kann zu lesen, dann kann es auch lesen, um zu lernen. Selbst wenn die Dorfkinder also zum Beispiel innerhalb von 18 Monaten nur das Lese-Niveau von Drittklässlern erreichen würden, wäre das schon ein gewaltiger Erfolg.

Zudem werden die Ergebnisse unseres Tests nicht nur verraten, wie wir dem Rest der 100 Millionen Kinder viel schneller helfen können als durch den Bau von Schulen und Lehrer-Ausbildung. Wir werden auch viel über das Lernen in den reichen Ländern dieser Welt erfahren. Wenn Kinder in Äthiopien ohne Schule lesen lernen können, was ist dann mit Kindern in New York, die das nicht einmal in der Schule schaffen?

Die Botschaft wird eine überaus einfache sein: Kinder können sich sehr viel selbst beibringen, mehr, als wir ihnen zutrauen. Neugier ist ganz natürlich, alle Kinder haben sie, solange sie ihnen nicht ausgetrieben wird – häufig ausgerechnet in der Schule. Das Entscheidende: Dinge herzustel-len, Dinge zu entdecken und Dinge weiterzugeben. Große Bibliotheken mit erklärendem Material wie moderne Nachschlagewerke und Lehrbücher sind nichts Schlechtes. Aber sie könnten weniger wichtig sein als der Aufbau einer Welt, in der Ideen durch "learning by doing", also durch Herum-probieren, entwickelt, entdeckt und neu erfunden werden. (bsc)