Festgemauert

Schreiben im stillen Kämmerlein ist eine Sache, einen Verlag für die Veröffentlichung zu finden, eine andere. Fast unbegrenzte Möglichkeiten bietet in dieser Hinsicht das World Wide Web. Und ist jemand bereits vor über siebzig Jahren verstorben, können seine Werke ohne Copyright-Verletzung auch von anderen publiziert werden.

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Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Torsten Beyer
  • Kersten Auel
Inhaltsverzeichnis

Viele erinnern sich möglicherweise an keine einzige Zeile von Schillers ‘Glocke’. Ins Gedächtnis gegraben hat sich bei manchen stattdessen der Satz: ‘Bim, bam, da hängt ’se.’ Das muss so ungefähr in der zehnten oder elften Klasse im Deutschunterricht gewesen sein. Andere wiederum schwärmen vielleicht noch immer vom ‘Bello Gallico’ des guten alten Julius. Wie auch immer, die große Literatur der letzten zweitausend Jahre spielt eine zentrale Rolle in der (Aus-)Bildung junger Menschen. In vielen Fällen diente das wohlbekannte Reclam-Heftchen sowohl als Basis für das Studium der eigentlichen Literatur wie auch für klug klingende Übersetzungen oder Interpretation in Klassenarbeiten - soweit man dabei nicht erwischt wurde.

In den Zeiten elektronischer Medien und des Internet steht diese Literatur im Begriff, neue Verteilungsmedien zu erobern. Natürlich - während einer Klausur wird allein aus logistischen Gründen das kleine Reclam-Heft ganz klar auch auf lange Sicht der beste Freund des Schülers bleiben. Aber für alle anderen Anwendungsfälle scheint die Nutzung von Internet und CD-ROM geeignet und sinnvoll zu sein. Grund genug, im Web auf die Suche nach Literatur und Poesie zu gehen. Vielleicht gelingt es ja auf diese Weise, die unzähligen Zweifler an Deutschlands Schulen davon zu überzeugen, dass Computer für mehr gut sind, als nur Pascal zu lernen.

Auffallend ist zunächst die Menge an von Einzelpersonen verfasste Literatur, die im Netz publiziert wird - sei es Prosa oder Poesie. Damit eröffnet das Web all den Zeitgenossen eine nahezu kostenlose Option zur Veröffentlichung ihrer Arbeiten, die aus welchen Gründen auch immer nicht über Verlage publizieren.

Wie gut so etwas aussehen kann, zeigt das Projekt Weltschreck und Hausglück, das in grafisch außerordentlich ansprechender Weise Bilder und Literatur von zumindest mir unbekannten Künstlern veröffentlicht.

Offensichtlich bietet ein neues Medium auch stets neue Möglichkeiten für Literatur. Das beweist der Übergang von Stein zu Pergament genauso wie der von handgeschriebenen zu gedruckten Büchern. Stets gab es neue Möglichkeiten der Gestaltung und des Aufbaus von Literatur. Gleiches gilt fürs Internet. Ein interessanter Ansatz in diese Richtung findet sich im Projekt ‘Spielzeugland’ (http://www-public.rz.uni-duesseldorf.de/~karlowsk/spiel.html). Dessen Grundidee ist die kollektive Erstellung eines multimedialen ‘Schriftstücks’. Jeder, der will, kann dort seinen Beitrag leisten. Die Autoren der Website re-editieren den ‘Text’ monatlich und erhalten auf diese Weise ein gewisses Maß an Kohärenz. Zunächst kann sich der interessierte Netzreisende einen Überblick (http://www-public.rz.uni-duesseldorf.de/~karlowsk/protagon.html) verschaffen. Er kann nachlesen, was bisher geschah und wie die Sache im Detail funktioniert. Die Panoramaseite (http://www-public.rz.uni-duesseldorf.de/~karlowsk/panorama.html) präsentiert die Gesamtstruktur der Geschichte und verzweigt in die einzelnen ‘Kapitel’. Ein sehr spannender Ansatz.

Ähnliches befindet sich auf Gvoon, verbunden mit einem absolut coolen Look & Feel (natürlich total langsam, aber das Warten lohnt). Dieser Server beherbergt ebenfalls ein kollektives Schreibsystem. Gvoon steht für ‘global visions of other natures’ und ist ein Projekt von Arthur Schmidt, der auf diese Weise eine Plattform für multimediales, kollaboratives Schreiben von ‘Texten’ anbietet . Anders als bei obigem Server wachsen auf Gvoon eine Reihe von Geschichten parallel. Man steigt zunächst über die Titelseite in eine der Stories ein, um dann zu entscheiden, ob und wenn ja auf welche Weise man weiterschreiben möchte. Außerdem besteht die Möglichkeit, jede der Geschichten herunterzuladen. Alles in allem eine wirkliche schicke Website mit interessantem Literaturkonzept.

Die ultimative Kompetenz in Sachen Literatur online ist zweifellos das Projekt Gutenberg-DE. Seit 1994 werden dort literarische Digitalien gesammelt. Stand heute: mehr als 300 Autoren mit mehr als 150 000 Seiten. Nach Aussage des Protagonisten Gunter Hille kommen monatlich circa 5000 Seiten hinzu. Auch dieses Projekt ist ein Beispiel für kollektive Arbeit. Jeder kann mitmachen und Texte beisteuern. Aus Copyright-Gründen muss bei Klassikern der Autor beziehungsweise Übersetzer länger als siebzig Jahre tot sein. Aber immerhin, da bleiben noch eine ganze Menge Schriftsteller über. Wer also an längeren Winterabenden etwas Sinnvolles tun möchte ...

Beeindruckend ist jedenfalls das unglaubliche Maß an Geschriebenem - speziell an klassischen Texten. Alle, die mal richtig ‘gute Literatur’ lesen wollen, sollten auf der links eingeblendeten Autorenleiste auf ‘Kleist’ klicken. In dem Fall kommt nicht nur eine wahre Fülle an Primärtexten zum Vorschein, sondern es gibt, wie bei den anderen Autoren, zusätzlich eine Biografie, zum Teil mit Verweisen auf weitere Informationen über den Dichter. Für mich ist dies ein eindrucksvolles Beispiel dafür, was Freiwillige im Rahmen der Plattform Internet zu leisten vermögen. Möglicherweise könnte diese Site selbst den Leiter des örtlichen Philologenclubs zum Surfen motivieren.

Liebhaber moderner Literatur werden bei Pegasus ‘98 fündig. Pegasus 98 ist ein Literaturwettbewerb von Die Zeit, IBM, ARD online und Radio Bremen. Auf diesem Server lassen sich online die jeweiligen Beiträge recherchieren und zum Teil auch lesen. Leider ist moderne Literatur kommerziell offensichtlich viel interessanter als die Klassiker (wenn das der Geheime Rat wüsste), sodass aktuelle Texte viel seltener im Web verfügbar zu sein scheinen.

Wer sich jetzt als Autor angesprochen fühlt, aber nicht so recht weiß, wie die Literatur ins Netz kommen soll, werfe einen Blick auf die Autorenecke (http://www.widd.de/autoren/index.html). Diese sehr schön gemachte Website bietet jedem die Möglichkeit seine Texte einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen, ohne gleich zum HTML- und Internet-Experten werden zu müssen. Regelmäßige Besucher klicken auf ‘Neues’ und finden dort die jeweils zuletzt eingestellten Romane, Kurzgeschichten und so weiter. Wer einen Favoriten hat, findet dessen Werke über die Autorensuche. Neulinge, die sich zunächst orientieren möchten, suchen unter ‘Genre’ nach der Art von Literatur, die sie interessiert. Das Ganze läuft auf einem angenehm schnellen Webserver und scheint von übermäßigem, das Laden verzögernden Schnickschnack frei zu sein. (ka)