Hotspots im All: Warum die Lagrange-Punkte so interessant sind

Das James-Webb-Weltraumteleskop liefert vom Lagrange-Punkt L2 gerade faszinierende Bilder. Diese Punkte bieten strategische und wissenschaftliche Möglichkeiten.

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Die militärische Mission "Cislunar Highway Patrol System" soll ab 2025 um einen der beiden Lagrange-Punkte fliegen.

(Bild: AFRL courtesy graphic / U.S. Air Force Capt. David Buehler)

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Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Christian Rauch
Inhaltsverzeichnis

Lagrange-Punkte sind Orte im Weltraum, an denen sich die Gravitationskräfte zweier Himmelskörper so ausgleichen, dass ein Flugkörper dort einfach "parken" kann. Ohne weiteren Antrieb umkreist er an diesem Punkt den größeren der beiden Himmelskörper. Und dies so schnell wie der kleinere Himmelskörper den größeren umkreist.

Gerade jetzt wird vor allem auf den Lagrange-Punkt L2 im Sonne-Erde-System geschaut. L2, 1,5 Millionen Kilometer außerhalb der Umlaufbahn der Erde um die Sonne, eignet sich besonders für astronomische Beobachtungen – und das zeigt aktuell eindrücklich das James-Webb-Weltraumteleskop, Nachfolger des Hubble Space Telescope. Nach seinem Start am 25. Dezember 2021 kreist es seit dem 24. Januar 2022 um L2 in einem Orbit in 250.000 bis 832.000 Kilometern Abstand vom Lagrange-Punkt. Von dort liefert es nun faszinierende Bilder von Galaxien in einer bisher ungeahnten Detailschärfe. Denn die Strahlung von Sonne, Erde und Mond kommt hier stets aus einer Richtung, von "innen". Auch die Weltraumteleskope Gaia (ESA) und Spektr-RG von Deutschland und Russland mit dem vom Max-Planck-Institut entwickelten Röntgenteleskop eROSITA kreisen gegenwärtig um L2.

Die ersten wissenschaftlichen Aufnahmen des Weltraumteleskops James Webb (10 Bilder)

Die fünf "tanzenden Galaxien" in Stephans Quintett
(Bild: NASA, ESA, CSA, and STScI)

Der Punkt L1 im Sonne-Erde-System liegt 1,5 Millionen Kilometer innerhalb der Erdbahn. Von dort können Satelliten ungestört die Sonne beobachten, so macht es das europäische Sonnenobservatorium SOHO seit 1996. Auch die Tagseite der Erde hat man stets im Blick, das nutzen Missionen wie das amerikanische Deep Space Climate Observatory. Mitten im Sonnenwind, der von der Sonne kommend auf das Magnetfeld der Erde trifft, forscht der NASA-Satellit WIND um L1.

Auch im Mond-Erde-System gibt es Lagrange-Punkte. Sie haben aber weniger wissenschaftliche Bedeutung, denn strategische bzw. militärische. Im Januar 2019 landete zum ersten Mal ein menschgemachtes Objekt auf der Mondrückseite: der Lander und Rover "Jadehase 2" der chinesischen Mission Chang’e 4. Da die Rückseite immer von der Erde abgewandt ist, ist niemals direkter Funkkontakt möglich. Daher postierte China den Relaissatelliten "Queqiao" am Lagrange-Punkt L2, 65.000 Kilometer hinter dem Mond. Von dort aus konnte er die Signale des Rovers auffangen und zur Erde weiterleiten.

Der am Lagrange-Punkt L2 parkende Queqiao dreht sich also zusammen mit dem Mond um die Erde, nur etwas weiter außen. Exakt am Punkt L2 ist der Satellit allerdings nicht postiert, sondern in einer Umlaufbahn um L2. Direkt an L2 wäre er instabil, würde wegdriften. Innerhalb einer kugelförmigen Sphäre, dem "Halo", umrundet er den L2 jedoch mit geringen Kurskorrekturen auf immer wieder versetzten Bahnen und hat Funkkontakt zur Mondrückseite und zur Erde.

Auch das US-Militär hat den Lagrange-Punkt im Visier. Und seinen Counterpart, L1, der rund 58.000 Kilometer vor dem Mond liegt. Noch in diesem Jahr könnte der "Defense Deep Space Sentinel"-Satellit starten. Mit einem solarelektrischen Antrieb soll er aus einem geostationären Erdorbit heraus in verschiedene Mondumlaufbahnen und um die Lagrange-Punkte manövrieren.

Um einen der beiden Lagrange-Punkte soll ab 2025 die ebenfalls militärische Mission "Cislunar Highway Patrol System" fliegen. Und die DARPA, Forschungsabteilung des Pentagon, will einen thermonuklearen Antrieb für schnelle Manöver zwischen Erde und Mond testen. Hauptziele sind die Überwachung und Kontrolle des cislunaren Raums und die Verfolgung dort stattfindender Flugbewegungen.

Cislunar nennen Militärs den Raum, in dem sie bisher kaum aktiv sind: zwischen der geostationären Erdumlaufbahn in 36.000 Kilometern Höhe, bis zu der erdnahe Raumfahrt stattfindet, und dem im Mittel 384.000 Kilometer entfernten Mond, inklusive des L2-Raums hinter der Rückseite. Da die NASA im Rahmen ihrer Programme "Artemis" und "Lunar Gateway" die permanente, bemannte Rückkehr zum Erdtrabanten plant, will das US-Militär die künftige zivile Forschung um und auf dem Mond schützen. Augenscheinlich vor China, die nach den Erfolgen ihrer unbemannten Mondmissionen – vor allem Chang'e 4 mit dem lange funktionstüchtigen Rover auf der Rückseite und Chang'e 5 mit der Rückholung von Bodenproben – mit Hochdruck an weiteren Missionen arbeitet. Den Aufbau einer Mondstation will die Volksrepublik deutlich früher als geplant beginnen und dazu mit Russland zusammenarbeiten.

Die USA hingegen schwören seit Oktober 2020 in ihren "Artemis Accords" Partnerstaaten auf gemeinsame Standards bei der Monderforschung ein. Dazu zählt auch die völkerrechtlich umstrittene Einrichtung von Sicherheitszonen, um kommerzielle Interessen zu schützen. Experten wie der Politikwissenschaftler Michael Byers und der Astronom Aaron Boley sehen in dem neuen Wettlauf Risiken und warnen vor militärischen Aktivitäten am Mond und den Lagrange-Punkten. "Die Grenze zwischen den Erdumlaufbahnen und dem cislunaren Raum stellt eine klare Linie dar, auf der eine Verpflichtung zur Entmilitarisierung gegründet werden könnte", schreiben sie in einem Beitrag für das Bulletin of the Atomic Scientists.

Insgesamt kennt die Physik fünf Lagrange-Punkte. Da sie zwischen allen möglichen Himmelskörpern liegen, existieren in unserem Sonnensystem zahllose L-Punkte. So kreisen um L4 und L5 im System Sonne-Jupiter die "Trojaner"-Asteroiden, die die am 16. Oktober 2021 gestartete NASA-Sonde Lucy erforschen wird. Science-Fiction-Autoren lieben den L3-Punkt Sonne-Erde. Da er sich permanent hinter der Sonne versteckt, könnte dort ein unentdeckter Planet, eine Gegenerde, oder eine feindliche Alien-Streitmacht lauern. Ersteres schließen Wissenschaftler mittlerweile klar aus, letzteres wohl ebenfalls.

(jle)