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Missing Link: New Digital Deal - Kunst (nicht nur) des Digitalen

Johannes Schacht

(Bild: 3Dsculptor / Shutterstock.com)

Die Ars Electronica: Kunst, Technologie und Gesellschaft. Sind Lebensmittelrückstände für Kleidung geeignet und isst man besser Erde oder sein eigenes Fleisch?

Kunst, Technologie und Gesellschaft - all das möchte die Ars Electronica zusammenbringen und die Auswirkungen darstellen. 2021 fand das Festival vom 8. bis 12 September unter dem Motto "A New Digital Deal" statt.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Zur Eröffnung vertieft Gerfried Stocker, der langjährige künstlerische Leiter des Festivals, das Motto: A New Digitial Deal [2]. Es geht darum, Verfahren und Regeln zu finden, das wir die Kontrolle drüber bekommen oder behalten, wie das digitale Zusammenleben sich gestaltet und ob das Internet zu einer gerechteren Welt beitragen wird. Welches "wir" er dabei genau meint und was die andere Seite wäre, hätte man gerne erfahren, denn die Partner des Festivals decken die österreichische Gesellschaft breit ab und auch europäische Institutionen sind stark vertreten. Aber natürlich ist eine Eröffnungsfeierlichkeit nicht der Ort für solche tiefgehenden Überlegungen.

Einen Überblick über den Stand der Medienkunst zu gewähren – das ist der Anspruch des Festivals und er wird regelmäßig eingelöst. In der Johannes-Kepler-Universität (JKU) ist die sogenannte Themenausstellung untergebracht und speist sich aus den Einreichungen zum Prix Ars Electronica, zum europäischen STARTS-Wettbewerb und Exponaten der Kooperationspartner.

Zum ersten Mal gelingt es dem Besucher, die Werke komplett zu erfassen. Normalerweise wird man von der Fülle und Vielfalt des Angebots erschlagen und verlässt das Feld mit der Gewissheit, vieles Wichtige und vielleicht sogar das Beste übersehen zu haben. Doch Corona hat das Format der Veranstaltung verändert. Die JKU ist nur ein Garten unter 86 anderen in der Welt. Das "Garten-Format" wurde im letzten Jahr erfunden, als das Programm in Linz pandemiebedingt auf ein Minimum reduziert wurde. Was früher in den Hallen, Gängen und Kellern des stillgelegten Postverteilzentrums gepresst wurde, verteilt sich heute auf die ganze Welt. Eine bemerkenswerte Antwort auf die veränderte Situation und wir sind gespannt, was davon nach der Pandemie verbleibt.

Die Auswahl ist sehenswert. Vielen Exponaten gelingt es mit Witz aktuelle Themen, neue Technologien und ästhetische Herangehensweisen zu verbinden. Typisch beispielsweise "How to Strand Astronauts on the Moon" von Halsey Burgund (US) und Francesca Panetta (UK): Wir sehen Richard Nixons nie gehaltene Fernsehansprache, für den Fall, dass die Mondastronauten nicht zurückkehren würden. Der Wortlaut der seinerzeit vorbereiteten Rede wird dem damaligen Präsidenten per Deep-Fake in den Mund gerendert. Der Besucher sieht die Ansprache in einen alten Röhrenfernseher mit damaliger Bild- und Tonqualität und sitzt dabei in den typischen Cocktailsesseln der 1960er-Jahre. Geht es um Medien, Verschwörungstheorien, Technikkritik – egal von welchem Winkel man sich nähert, der Besucher kann in die unterschiedlichsten Assoziationswinkel eintauchen.

Oder "Made to Measure – I is a Search Engine" von Laokoon, ein Label unter dem sich Hans Block (DE), Moritz Riesewieck (DE), und Cosima Terrasse (FR) künstlerischen und crossmedialen Projekten zu Digitalität und Gesellschaft widmen. Hier wird ein altbekanntes Topic behandelt, nämlich was die Internetkonzerne alles über uns wissen. Aber es wird nicht der pädagogische Zeigefinger gehoben, der den hilflosen User darüber aufklärt, wie der böse Datenkrake ihn ausplündert. Stattdessen wird ein packendes, hochinformatives Experiment gemacht. Laokoon nimmt die Suchanfragen einer bestimmten Person, einer Frau, und versucht das Leben dieser Person zusammen mit einer Schauspielerin nachzustellen. Man kann beobachten, wie sich immer genauere Persönlichkeitsmerkmale erschließen und die Schauspielerin immer tiefer in die Rolle eindringt. Wenn der Beobachter das Geschehen nicht auf den Großleinwänden verfolgt, sondern auf den Bildschirmen auf der Empore, interagiert er mit der Software und merkt, wie ihn diese wiederum selbst beobachtet.

Made to Measure – I is a Search Engine

(Bild: Dorothea Cremer-Schacht)

Die prämierten Kunstwerke des Wettbewerbs befinden sich wie immer im "OK", dem Offenen Kulturhaus an der Linzer Einkaufszone. Hier werden die Sieger der einzelnen Wettbewerbskategorien gezeigt. Mittlerweile wird im Zweijahresrhythmus je eine Hälfte der Kategorien gezeigt, eine Einschränkung, die der Bewältigung der stark gestiegenen Zahl an Einreichungen geschuldet ist, wie auch der Ausweitung der Preiskategorien selbst. In diesem Jahr wurden die Kategorien "Computer Animation", "Artificial Intelligenz & Life Art" und "Digital Musics & Sound Art" ausgezeichnet. Dazu der jährlich stattfindende STARTS-Wettbewerb (Science + Technology + Arts), eine Initiative der Europäischen Union mit Preisgeldern in Höhe von 2 x 20.000 Euro.

Es fällt auf, dass führende Twitter-Hashtags wie Gender, Rassismus, Trans oder Klima stark vertreten sind. Ob die Dominanz bei den Einreichungen dafür ursächlich ist, weil viele Künstler sich an den Zeitgeistthemen und den Mächtigen orientieren, oder der Auswahlprozess der Jury, die diesmal online tagen musste und damit ein wichtiges gruppendynamisches Element verlor, bleibt hier offen.

Animation gehört, ebenso wie digitale Musik, zu den ältesten Kategorien. Die Zeit, in der unbekannte Bildererlebnisse durch technische Innovationen bestaunt werden konnten, ist spätestens vorbei, seit in Hollywood computergenerierte Bildproduktionen selbstverständlich geworden sind. Insofern tritt der Inhalt stärker in den Vordergrund. Der Film "When the sea sends forth a forest" von Guangli Liu (CN) erhielt die Goldene Nica. Er befasst sich mit den Chinesen in Kambodscha zur Zeit der Roten Khmer. Es ist ein vergessenes Schicksal, denn sie wurden brutal verfolgt und getötet, erstaunlicherweise, denn Maos China nannte sich ja ebenfalls kommunistisch. Es existieren kaum Bildaufnahmen und so behalf sich Liu indem er die wenigen Filmdokumente zusammen mit Propagandafilmen in eine Computerspielanimation einband. Die Erzählstimme berichtet in der Ichform vom Schicksal einer Familie in den Wirren der damaligen Zeit.

Auch die Bulgarin Veneta Androva greift in ihrem Werk "AIVA" auf Computerspieltechnik zurück [3]. Sie erzählt von der Malerin AIVA, einem Roboter mit "artificial female intelligence", deren Kunstwerke für den Galeristen, der sie erschaffen hat, hohe Einnahmen erzielen. Die erschaffene Figur karikiert das Klischee des männlichen Künstlergenies. Sie lässt ihre Muse, natürlich ein nackter Mann, solange posieren, bis sie von Inspiration gepackt wird, als der Penis im Handstand sich so mächtig gegen die Schwerkraft wehrte. Nun, das Ergebnis sind ein Haufen tafelbildartiger Pimmelbilder. Das Ganze lässt den Betrachter unentwegt schmunzeln, vor allem ob der Erzählstimme in der typischen Intonation einer weiblichen Museumsführerin und dem Geschwurbel von "International Art English", das einem so flüssig in das eine Ohr reingeht, wie es aus dem anderen wieder rauskommt.

AIVA – Die erschaffene Figur karikiert das Klischee des männlichen Künstlergenies

(Bild: Dorothea Cremer-Schacht)

Nicht beschreiben kann man "OPERA" von Erick Oh (US), ein bildgewaltiges Opus [4], welches die ganze Welt und den Gang dieser Welt und ihrer Menschen in einem einzigen bewegten Bild illustriert. Man möchte sich auch nach dem dritten Mal anschauen nicht lösen, würde man doch auch beim vierten oder fünften Mal weitere Einzelheiten entdecken, die Macht, Religion, Klassen, Rassismus, Krieg und Terror aufzeigen.

Die Kategorie "Artificial Intelligence & Life Art" ist ein bisschen die Büchse der Pandora. Offensichtlich stehen die Veranstalter vor vielen Einreichungen, die sich einer Kategorisierung entziehen. Früher hieß es mal "Hybrid Art" und wir prognostizieren, dass sich auch der aktuelle Titel ändern wird. Der Gewinner in dieser Kategorie ist "Forensic Architecture [5]", eine international agierende Aktivistengruppe, die es sich zum Ziel gesetzt hat, Menschenrechtsverletzungen aufzuklären, beispielsweise über Spuren an Gebäuden oder in der Umwelt. Schon 2018 wurde mit Bellingcat eine vergleichbare Initiative ausgezeichnet. Es ist definitiv lobenswert, solchen Initiativen Aufmerksamkeit zu schenken, weil jeder Versuch, staatliche Desinformation zu kontern, wichtig ist. Doch können diese Initiativen ebenso schnell Opfer falscher Vereinnahmung werden, denn es ist ja bekanntlich die Wahrheit, die in Gebieten wie Syrien oder Gaza als erste zu Grabe getragen wird.

Mit "The Museum of Edible Earth" von masharu (Maria Rudnaya) [6] wurde eine Arbeit ausgezeichnet, bei der solche Zweifel nicht angebracht sind. Die energiegeladene junge Russin, die in den Niederlanden lebt, ist ausgezogen in die Welt und hat in mehr als dreißig Ländern Erde gesammelt, die von Menschen gegessen wird. Sei es aus spirituellen Gründen, sei es aus medizinischen oder sonstigen – überall hat sie Traditionen gefunden, Erde zu essen. Geophagie ist die wissenschaftliche Bezeichnung der uralten Praxis, die noch in vielen Kulturen ein fester Bestandteil ist. Ihre Funde aus sand-, schlamm- oder steinartigen Proben präsentiert sie in anschaulichen Schälchen und lädt die Besucher zum Probieren ein. Da knirschen viele Zähne ob der ungewohnten Speise. Der eine oder andere Geschmack ist in der Tat bemerkenswert – eine Erfahrung, die unseren Umgang mit der Umwelt, der Erde, ja den Lebensmitteln zu reflektieren einlädt. Im begleitenden Filmmaterial an den Monitoren, berichten Menschen aus allen Kontinenten über die Hintergründe ihres Erdeessens, das im Übrigen auch als Krankheit klassifiziert werden kann, wie Rudnaya schmunzelnd bemerkt.

masharu (Maria Rudnaya) und Adriana Knouf (siehe TX-1 unten) beim Prix-Forum, zusammen mit Jurymitglied Jens Hauser

(Bild: Dorothea Cremer-Schacht)

Tranxxeno lab widmet sich mit "TX-1" einem bisher übersehenen Problem [7]: Wie können die Bedingungen im bewohnten Weltraum so gestaltet werden, dass auch Transpersonen dort leben können. Im Rahmen einer Initiative, Kunstwerke ins All zu bringen, hat Adriana Knouf (US) Proben ihrer Hormonmedikamente und eine winzige gefaltete Papierskulptur zur ISS geschickt und zurückgeholt. Die kleine Glaskapsel wird wie eine Reliquie präsentiert und kann über eine Lupe inspiziert werden. Knouf möchte gerne ihren Körper ins All schicken und hat sich darum auch als Astronaut beworben. Transmenschen seien besonders wichtig im Weltraum, denn schon auf der Erde werden sie als Alien betrachtet, wie Knouf glaubhaft vom Aufwachsen in einer 600-Seelengemeinde in den USA berichtete und das sollte extraterrestrisch nicht so weitergehen.

Die dritte Cyberarts-Kategorie ist die digitale Musik. Doch mindestens bei zwei Preisträgern muss man den Musikbegriff sehr weit dehnen, um das Werk noch in der Kategorie zu sehen. Alexander Schubert (DE) hat mit "Convergence" KI-Algorithmen dazu programmiert [8], Gesichter zu morphen und zu verändern, wobei die Protagonisten sich teilweise dem Regime der KI unterwerfen mussten (Augen links, Mund auf, …). Die Bilder erinnern an Francis Bacon und die synthetisch klingende Stimme spricht über Loops, Rekursion, Parameter und andere Bestandteile des technischen Prozesses. Die Personen gehören zu einem Musikensemble und das Ganze ist auch mit einem Soundteppich unterlegt. Vermutlich hat die Jury die komplexe Konstruktion des Arrangements besser verstanden als sie sich dem Betrachter erschließt und sicherlich kann man vielfältige Fragen stellen nach der Konstruktion von Wirklichkeit, wie sie sich in neuronalen Netzen im Computer und im Gehirn manifestiert, wir aber hätten das Werk eher in einer anderen Kategorie gesehen, obwohl in einigen Sequenzen tatsächlich Streichinstrumente auftauchen.

Auch "A Father’s Lullaby ” ist eher ein Community- als ein Musikwerk. Rashin Fanhandej (US) beschäftigt sich mit dem Schicksal vaterlos aufwachsender Kinder in den von Schwarzen bevölkerten Gebieten der USA. Ob die Schuld an der Vaterlosigkeit so umstandslos dem amerikanischen Justizsystem zugewiesen werden kann, wie Fanhandej das macht, kann dahingestellt bleiben. Es ist aber unbedingt lobenswert auf das sich reproduzierende Problem aufmerksam zu machen, das immer mehr Menschen an den Rand der Gesellschaft drückt. Alleinerziehende Mütter sind kein nachhaltiges Gesellschaftsmodell. Wiegenlieder sind zwar Musik, aber das Projekt passt hier nicht hin. Nichtsdestotrotz eine sehr sehens- und auch hörenswerte Installation.

"Convergence" ist ein zweimal prämierter Titel [9]. Die Arbeit von Douglas McCausland (US) ist ein klarer Fall für die Kategorie der digitalen Musik. In der Performance für zwei Personen spielte eine einen Kontrabass und die andere manipuliert die Töne über Spezialhandschuhe und verteilt sie auf die Surround-Lautsprecher. Das sieht teilweise kurios aus, ist aber interessant zu sehen, zu beobachten und zu hören.

Musik hat auf der ARS stets noch einen eigenen Raum, mit der großen Konzertnacht, die gemeinsam mit dem Brucknerorchester eröffnet wird und sich mit experimenteller Musik bis spät in die Nacht fortsetzt. Oder wie diesmal während der Eröffnungsveranstaltung mit der sehr intensiven Neuinterpretation von Franz Schuberts Winterreise von Gitarrist und Sänger Oliver Welter und Pianistin Clara Frühstück im Verbund mit den ausgezeichneten Visualisierungen des Medienkünstlers Cori O’Lan alias Gerfried Stocker.

Viele Musikaufführungen werden von Videoimprovisationen begleitet. Diese Kunstrichtung ist immer etwas im Schatten der Musik. Vielleicht war der Grund, dass der künstlerische Leiter der ARS mehrmals selbst die Hand an Joystick und Tastatur legte, dass wir genauer hinsahen. Was früher oft mehr Farbschlieren und tanzende Striche waren, sind heute komplexe animierte Formen, die ein eigenes Leben zu haben scheinen. Sie waren teilweise so faszinierend, dass die Musik zur lautlichen Untermalung der Bilder geriet. Die Kunstdisziplin hat durchaus das Potential einmal in den Mittelpunkt eines Festivals gerückt zu werden.

Erstmals wurde auch der "Isao Tomita Special Prize" vergeben, der in Anlehnung an die japanische Musikerlegende Tomita engagierte Musiker ehren soll. Erhalten hat ihn Khyam Allami (GB) mit Counterpoint (Int) für "Apotome" [10], ein frei verfügbares Online-Werkzeug, das Musikern weltweit einen klanglichen Austausch ermöglicht.

Die von den EU-Preisen bedachten Werke haben uns in der Vergangenheit meist weniger beeindruckt. Es ist in diesem Jahr nicht anders. "Oceans in Transformation", eine Arbeit der Architekten der "Territorial Agency" [11], wurde in der STARTS-Kategorie "Artistic Exploration" prämiert; das Werk untersucht die Veränderungen in den Ozeanen unter den verschiedensten Blickwinkeln und will den Betrachter unbekannte Zusammenhänge entdecken lassen. Doch was wir sehen, sind 25 mannshohe Hochkantmonitore, die in sanften Bewegungen Overlays über Ozeankarten blenden. Das Ganze mit dunkler sphärischer Musik schafft einen wunderbar ästhetischen Raum der verzaubern kann, aber keine der angepriesenen Erkenntnisse erlaubt. Das ist uns auch an anderen Werken zur Datenvisualisierung aufgefallen. Zum Beispiel die Darstellung von 600.000 wissenschaftlichen Artikeln zu Covid-19. Wie eine Milchstraße strahlen die Punkte, die je eine Arbeit repräsentieren im gigantischen Vorführsaal "Deep Space" des Ars Electronica Centers. Doch die Erkenntnis, dass es ein Cluster von 2002/2003 gibt und man lernt, dass es damals schon mal Forschungen zu SARS gab, überwältigt nicht wirklich. Und wenn man das Ganze nur als visuelles Spektakel betrachtet, möchte man doch lieber in den richtigen Sternenhimmel schauen.

Auch die Vergabe der STARTS-Kategorie "Innovative Collaboration" irritiert etwas. Erhalten haben ihn die Designerinnen Anastasia Pistofidou, Marion Real und The Remixers at Fab Lab Barcelona, (Int) die Lebensmittelrückstände verarbeiten, u.a. zu Kleidung [12]. Ihre Stoffkreationen vermitteln jedoch das Gefühl, dass man sie nicht auf der Haut tragen möchte. Vielleicht ein vermeintliches Gefühl – doch bei der Ehrung auf der Bühne trug niemand aus dem Team die als produktionsreif erklärten Hemdchen und Jacken.

Doch ein paar "Etagen" unterhalb der Hauptausgezeichneten stoßen wir auf ein kleines Juwel. Theresa Schubert (DE) hat mit "mEat me" einen Gedanken konsequent fortgesponnen [13]. Ausgehend von dem Übel der Massentierhaltung und den Überlegungen des Posthumanismus, mit denen sich Schubert intensiv auseinandergesetzt hat, stellt sie die Frage, ob wir nicht das Fleisch unseres eigenen Körpers als Nahrung heranziehen sollten. Und diese Frage zu stellen, heißt für sie, es zu tun. Ein Vorhaben, das nicht einfach in der Umsetzung ist. In Ljubljana findet sie mit der Galerija Kapelica einen geeigneten Partner, der ihr einen Schönheitschirurgen vermittelt, der in einer Biopsie ein Stück ihres Oberschenkelmuskels entnimmt. Im Labor der Educell Company for Cellular Biology wird diese Probe dann angezüchtet. Da klassische Nährlösungen auf Tiersubstanzen zurückgreifen, entscheidet sich Schubert für eine eigene Lösung mit von ihr entnommenen Blut, um das In-vitro-Fleisch zu "nähren".

Das ganze Projekt wird von der Künstlerin in einer Life-Performance zelebriert. Da sie sich nicht auf der Bühne operieren kann, zerlegt sie ein Stück Rinderfleisch, während auf dem Bildschirm im Hintergrund die reale Operation abläuft. Im zweiten Teil beschäftigt sie sich mit dem externalisierten Ich. Sie schafft über ein KI-basiertes Sprachsystem einen Dialog mit einer künstlichen Intelligenz, die Texte über Posthumanismus zu eigenen Aussagen verarbeitet, die sie über ein Sprachausgabesystem zurückspielt. Die Life-Performance endet damit, dass sie das gezüchtete Fleisch brät und verzehrt.

Man steht fasziniert, entsetzt und angewidert zugleich davor. Welche der vielen angesprochenen Themen soll man gedanklich verfolgen und darf man eigentlich an dem Kannibalismus-Tabu rühren. Schubert lebt und arbeitet in Berlin, aber die Radikalität mit der sie ihre Ideen vorantreibt, teilt sie mit Künstlern aus der ehemaligen Sowjetzone von denen wir schon häufiger Beispiele gesehen haben, wie die Slowenin Špela Petrič [14], die wie vor zwei Jahren einen Anerkennungspreis erhält für ein ästhetisches Werk in dem ein Roboter mit einer Pflanze und kleinen Kügelchen spielt. Vielleicht werden derartig avantgardistische Arbeiten in Zukunft noch mehr Sichtbarkeit auf der ARS haben.

Die Ars Electronica ist glücklich, nun auf dem Gelände der Johannes-Kepler-Universität eine neue Heimat für das Festival gefunden zu haben. Sicherlich ist die parkähnliche Campuslandschaft am Stadtrand ein Symbol für die Welt, wie sie sein sollte, für jeden. Doch fanden wir das heruntergekommene Postgelände am Bahnhof ehrlicher. Aber vielleicht führt die Nähe zur Wissenschaft zur gegenseitigen Befruchtung. Der Rektor der Universität, Meinhard Lukas, und der künstlerische Leiter der ARS, Gerfried Stocker, scheinen jedenfalls ein Herz und eine Seele.

Die Ausstellung der Universität beschäftigt sich mit der Frage, was KI ist und was sie kann. Wandtafeln klären über Mythen der KI auf, fragen, warum die typischen Bilder eigentlich immer Roboter und blaue, glimmende Gehirne sind, warum immer nur kaukasischer Männergesichter gezeigt werden (der "alter weiße Mann") und wo KI versagt. Mehrere Exponate erlauben dem Besucher mit der KI zu experimentieren. Zum Beispiel darf man Verkehrszeichen manipulieren und versuchen das Auto auf der Carrerabahn zum Entgleisen zu bringen.

Carrerabahn mit dem Beispiel für KI-gestützte Verkehrszeichenerkennung

(Bild: Dorothea Cremer-Schacht)

Das ist alles sehr lehrreich und gut gemacht und Wissensvermittlung für die Öffentlichkeit ist eine lange Zeit vernachlässigte Aufgabe der Universitäten. Doch leistet es keinen Beitrag zum Dialog zwischen Kunst und Wissenschaft, der im Zentrum des Festivals steht. Für die Kunstvermittlung gibt es das Museum "Ars Electronica Center", der Beitrag der Universität sollte unseres Erachtens ein anderer sein.

Beim Besuch des Museums konnten wir uns wieder von dem hohen Stand der Technikvermittlung überzeugen. Viele der Exponate sind technisch immens anspruchsvoll und müssen von den Museumsmachern von Grund auf erbaut werden, und zwar alle paar Jahre wieder, dem technischen Fortschritt entsprechend. Diese Aufgabe war vor 25 Jahren Anlass für die Gründung des ARS Electronica Future Lab. Gerfried Stocker hatte sich seinerzeit von mehreren Agenturen beraten lassen, nur um zu dem Schluss zu kommen, dass keines der klassischen Museumskonzepte geeignet war. Es dann eben alles selbst zu machen, war ein kluger Schachzug, denn heute hat das Future Lab unter seinem Leiter Horst Hörtner einen ganz eigenen Ruf und wird von Industriepartnern nachgefragt, die sich beraten lassen wollen oder in Gemeinschaftsprojekten neue Ideen ausprobieren wollen.

Neu im Museum und speziell für das Festival eröffnet wurde ein Bereich zum Klimawandel. Ob das wirklich in dieses Museum gehört kann man fragen. Immerhin gibt neben den Informationstafeln mit den allseits bekannten Basisinformationen "Asunder", ein Exponat, das mit künstlicher Intelligenz Verbesserungsvorschläge für verschiedene Regionen generiert. Ob sich die Berliner mit einem angrenzenden Urwald anfreunden könnten, würden wir natürlich gerne erleben.

Warum heute, nachdem die Themen Klimawandel und Energiewende dreißig Jahre mit steigender Intensität durch die Öffentlichkeit wabern, ein Schwerpunkt in einem Technologie- und Kunstkontext sein können, wollten wir von Martin Honzik wissen. Honzik ist ein ausgesprochen freundlicher, humorvoller und dynamischer Zeitgenosse, und nichts scheint ihn erschüttern zu können. Er ist für den Gesamtablauf des Festivals zuständig, alle Fäden laufen bei ihm zusammen. Wir hätten eher einen aufgeregten Hektiker erwartet, aber vermutlich kann man diesen Job, der ihn ein halbes Jahr daran arbeiten lässt, Menschen aus aller Welt zusammenzubringen und dann ein zweites halbes Jahr, die Ergebnisse wieder in die Welt hinauszutragen, nur mit viel Seelenruhe ausführen. Er sagt jedenfalls, dass er die Festivaltage genießen will.

Martin Honzik

(Bild: Dorothea Cremer-Schacht)

Dreißig Jahre lang ist doch nichts passiert, erklärt Honzik und vermittelt glaubwürdig, dass ihm das Thema wichtig ist. Er verpflichtet alle Partner des Festivals, die Nachhaltigkeit aller verwendeten Produkte und Materialien nachzuweisen. Gummibärchen in Plastiktütchen geht nur, wenn sichergestellt ist, dass jedes Tütchen den Weg in die Recyclingtonne nimmt.

Es geht laut Honzik heute nicht mehr darum, Visionen für eine digitale Welt zu finden, sondern Lösungen für die Probleme dieser digitalisierten Welt. Als da wären: Der Stromverbrauch der Cloud, die Arbeitsbedingungen bei der Gewinnung der Rohstoffe, die Genderungleichheit, Rassendiskriminierung und andere Ungerechtigkeiten, die durch die vorurteilverstärkenden Mechanismen künstlicher Intelligenzen verfestigt würden und schließlich die Machtkonzentration in den Händen großer Konzerne und Staaten, die die Datenflüsse kontrollieren können. Darauf soll die Konferenz eine Antwort finden. Es gehe heute darum, Lösungen für die ganze Gesellschaft im digitalen Raum zu skizzieren, den New Digital Deal eben.

KI macht Vorschläge für die Umweltverbesserung in verschiedenen Regionen der Welt

(Bild: Dorothea Cremer-Schacht)

Für das Klimathema hat Honzik das Branch-Magazin beauftragt, den ersten von zwei Konferenzblöcken zu organisieren. Das Magazin gibt es seit einem Jahr und es hat bisher zwei Ausgaben publiziert. Michelle Thorne und Chris Adams sind die beiden Macher; sie versuchen ein Netzwerk von Menschen zusammenzubringen, die im Tech-Sektor arbeiten und von der Dringlichkeit eines radikalen Umsteuerns ebenso überzeugt sind, wie sie selbst. Es geht um "Aktion jetzt", ähnlich wie Extinction Rebellion, mit denen sie sympathisieren. Für ihre eigene Webseite haben sie eine Technik realisiert, bei der der Umfang der angezeigten Daten davon abhängt, wie grün der Strom am Standort des Empfängers ist - je grüner, desto besser zum Beispiel die Bilder.

Michelle Thorne und Chris Adam

(Bild: Dorothea Cremer-Schacht)

Es sind aber erstaunliche Themen, die den Auftakt bilden. Ob man von Solarpunk gehört haben muss, lassen wir mal offen. Aber die Frage, ob deren optimistisches Zukunftsbild taugt, Aktivismus zu entfachen, oder eher lähmt, ist doch sehr speziell. Eher die Frage einer Blase in einer Blase. Auch die aufgeworfene Frage am Ende des Konferenztages, ob man eher von Klimaproblem, Klimakrise oder Klimanotstand reden sollte, wird eher nur eine kleine Gruppe von Menschen erregen. Und nicht unerwartet geht es um mehr als das Klima. Das Internet soll nicht nur klimaneutral sein, sondern auch gerecht, Gender, Race, Trans, alle Themen spielen zusammen. Die Frage nach dem Kapitalismus steht wie ein Elefant im Raum, wie jemand bemerkte.

Die Veranstaltung war sehr schwach besucht, kaum ein Dutzend Interessenten, wenn man die Techniker, Hilfskräfte und Medienvertreter ausnimmt. Zwar waren die Panels dual, hatten also auch Online-Zuschauer, doch bei 30.000 Besuchern des Festivals hätten sich ein paar mehr Teilnehmer finden können. Der Anspruch, die Diskussion über einen Digital Deal in die gesellschaftliche Mitte zu bringen, wird in diesem Format kaum gelingen. Und es wird auch kaum gelingen, ohne kontroverse Positionen auf das Tableau zu holen.

Der zweite Konferenztag organisierte das AI-Lab, eine Initiative der Europäischen Union und des österreichischen Innenministeriums. Auch hier mangelt es an der Öffnung zu Spielern außerhalb der Blase. In der Session über die Frage, wie KI und Kunst zusammenhängen, diskutieren drei Künstler miteinander, die künstliche Intelligenz an bestimmten Stellen in den Prozess ihrer Werkserstellung einfließen lassen. Die Frage, ob es Kunst autonom und ohne Künstler geben kann, prallt verständnislos ab. Vielleicht hätte ein Wissenschaftler in dieses Panel des Festivals für Kultur, Wissenschaft und Gesellschaft gehört.

Auch das Panel "AI x Civil Society: How AI infrastructures can advance the public good", scheiterte am Thema. Immerhin bemerkte man selbst, dass ein Aktivist, der für Menschen in Flüchtlingslagern arbeitet, viel grundlegendere Fragen an die Technik stellt oder dass die Juristin aus Hongkong, die sich einem hochgerüsteten Staatsapparat gegenübergestellt sieht, eher damit befasst ist, verschlüsselte Netzwerke zu organisieren als AI-Technik einzusetzen. Die Diskussion war spannend und lieferte interessante Einsichten.

Der New Digital Deal ist sicherlich ein guter Gedanke und auch die Überlegung, dass nun nicht die Zeit ist, neue Visionen zu einwickeln, sondern die neue digitale Welt zu ordnen. Der Anspruch wird aber vielleicht ein neues Format erfordern, das eine breitere Diskussion erzwingt, was sicherlich mit dem Risiko von Kontroversen einhergeht. Die Breite und Wirkungsmacht der ARS Electronica bietet aber die Möglichkeit, dies produktiv zu wenden.

(bme [15])


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