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Polen: Von 2.0 auf 4.0

Bernd Müller

Die polnische Regierung verfolgt ambitionierte Modernisierungspläne. Die deutsche Industrie unterstützt nach Kräften. Und doch ist das Nachbarland dank Niedrigstlöhnen vor allem verlängerte Werkbank.

Achtung, Kopf einziehen! Wie ein Prüfer beim TÜV-Check gehen wir geduckt durch den dunklen Tunnel. Bloß dass über den Köpfen kein Auto sondern ein zig Tonnen schwerer Metrotriebwagen steht, aus dem jede Menge scharfkantige Metallteile nach unten ragen. Da ist er: ein massiver schwarzer Stecker, der dicke Kabel verbindet und Signale und Energie für Bremsen, Türen und sonstige elektrische Einrichtungen von einem Waggon zum nächsten übermittelt. Auf dem Stecker steht gut zu lesen: Weidmüller. Namen deutscher Unternehmen begegnen uns in diesen Tagen bei diversen Werksbesuchen häufiger: Siemens, Festo oder Lenze. Und das, obwohl wir hier mitten in Polen sind, genauer gesagt im Werk des Bahnherstellers Newag in Nowy Sacz.

Polen ist das am schnellsten wachsende Land in Europa, 2017 wird das Wachstum voraussichtlich 3,6 Prozent betragen. Die Zahlen klingen vielversprechend, keine Frage: Polen entwickelt sich. Aber in welche Richtung? Ja und aber, einerseits und andererseits sind häufige Satzkonstruktionen, die man in Gesprächen mit deutschen Firmenvertretern, die den polnischen Markt gut kennen, öfters hört. Einerseits haben in Polen im vergangenen Jahr 400.000 junge Menschen ein Hochschulstudium abgeschlossen, darunter aber viele "weiche" (Nicht-MINT-)Fächer. Andererseits sind die Absolventenzahlen etwa in der Informatik in den letzten Jahren angestiegen, 2016 waren es 30.000. Einerseits hat Polen eine starke Exportwirtschaft, andererseits werden zwei Drittel dieser Exporte von Firmen mit Hauptsitz im Ausland erwirtschaftet – was für eine verlängerte Werkbank spricht.

Polnische Betriebe konzentrieren sich dagegen vorwiegend auf den polnischen Markt. "Die größten Wettbewerber für deutsche Unternehmen in Polen sind andere ausländische Unternehmen", sagt Rada Rodriquez, Geschäftsführerin bei Schneider Electric. Einerseits setzt die Regierung auf Internet 4.0 und Automatisierung, denn auch in Polen beginnt sich ein Fachkräftemangel bemerkbar zu machen, andererseits liegt die Versorgung mit Highspeed-Internet unter dem EU-Durchschnitt und entwickelt sich zudem langsamer.

"Der polnische Markt ist dynamisch und stark in Bewegung", sagt Yvonne Heidler, Osteuropa-Expertin beim Verband der Deutschen Maschinen- und Anlagenbauer. Die VDMA-Mitglieder scheinen mit der Situation ganz zufrieden zu sein. 70 Prozent der Maschinenexporte aus Polen nach Deutschland sind Zulieferteile, 60 Prozent der Importe aus Deutschland nach Polen sind dagegen fertige Maschinen. Billig aus Polen einkaufen und teuer nach Polen verkaufen – eine zumindest aus deutscher Sicht kluge Strategie. Wobei den deutschen Unternehmen bewusst ist, dass sie polnischen Partner nicht kleinhalten können, sondern eine Entwicklungsstrategie fahren müssen, die polnische Unternehmen auf Augenhöhe hebt. Dazu gehört zum Beispiel das deutsche duale Berufsbildungssystem, das weltweit und auch in Polen hoch angesehen wird.

Das gelinge zunehmend, berichtet Yvonne Heidler. "Früher hat der deutsche Kunde einen Konstruktionsplan gezeigt und der polnische Betrieb hat das gebaut. Heute kommen zunehmend eigene Innovationen aus Polen." Und die deutsche Autoindustrie, immer in der Zwickmühle zwischen Kosten senken und Qualität steigern, buhlt um polnische Firmen, damit die sich mehr auf dem deutschen Markt engagieren. Konkurrenz belebt schließlich das Geschäft.

Ein Sprungbrett nach Russland ist Polen übrigens nicht, das bestätigen die deutschen Branchenverbände unisono. Polen sei auf Russland nicht angewiesen, sagt Rodriguez, und sei auch kein Drehkreuz für Osteuropa, pflichtet Heidler bei. Polen orientiere sich klar nach Westen, trotz irritierender politischer Signale der polnischen Regierung.

Die versucht Tadeusz Koscinski kleinzureden. Koscinski ist Vizeminister im Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung. Die Frage nach dem Rechtsruck der Regierung und zweifelhafter verfassungsrechtlicher Entscheidungen hat der Politiker bereits erwartet und sich passende Antworten zurechtgelegt. Auf die Industriepolitik habe das keinen Einfluss, beschwichtigt der Politikprofi. Stattdessen möchte der Vizeminister lieber die ambitionierte Wirtschaftsstrategie vorstellen, die die Regierung gerade erarbeitet hat und bald umsetzen will. Von fünf Säulen ist darin die Rede: Reindustrialisierung, Innovation, Kapital zur Verfügung stellen, Export ankurbeln und faires Wachstum, das nicht nur den bereits gut entwickelten Ballungsräumen im Westen und Süden zugutekommen soll, sondern auch den nach wie vor unterentwickelten Regionen im Osten. Alles gute Ansätze, die vermutlich jeder sofort unterschreiben würde, aber ob das reichen wird, um vom Billiglohnland zum Innovationsführer Europas aufzusteigen, wird man abwarten müssen.

Auch Koscinski weiß: Der Aufschwung – seit der Wende 1989 hat sich das Bruttoinlandsprodukt verdoppelt – ist den niedrigen Lohnkosten zu verdanken. Der Lohn betrage weniger als die Hälfte dessen, was ein Arbeiter in Deutschland verdiene. Polen ist für Deutschland das, was man als verlängerte Werkbank bezeichnet und wofür viele Unternehmen früher nach China verlagert haben – bis die Löhne im Land der Mitte ebenfalls gestiegen sind und das nahe Polen wieder eine echte Alternative im globalen Lohnkostenpoker geworden ist.

Innovativ sein ohne explodierende Lohnkosten – dieses Kunststück muss die polnische Wirtschaft hinbekommen. Aus eigener Kraft wird das nicht gelingen, deshalb nimmt man gerne Hilfe an. Zum Beispiel von Festo, dem Technologieführer für pneumatische Automation aus Esslingen. "Viele Unternehmen in Polen befinden sich noch auf dem Stand der Industrie 2.0", sagt Marcin Zygadlo, Geschäftsführer von Festo Polen. Das Unternehmen betreibt in Warschau eine Produktion von Pneumatikzylindern, die nicht den Standardkonstruktionen im Katalog entsprechen und deshalb in Kleinserien oder sogar Einzelanfertigungen produziert werden.

Hier macht günstige Handarbeit wirklich Sinn. Abnehmer ist unter anderem die Lebensmittelindustrie, das Werk fertigt zum Beispiel für den Verpackungshersteller Tetrapak. 40 Prozent der Produkte bleiben in Polen oder gehen nach Osteuropa, 60 Prozent nach Deutschland und in die EU. Festo betreibt im Gebäude noch ein Anwendungszentrum, in dem neueste Technologien vorgestellt werden. Auffallend viele junge Menschen sieht man hier, sie sind entsandt von Universitäten, um hier ihre Abschlussarbeit zu machen. Vom Greifroboter, der einem Fließband folgt, über einen Sandfilter zur Wasseraufbereitung bis zu einer alten Schreibmaschine, die von einem Roboter betätigt wird, reicht die Palette der Schaustücke. Acht Leute arbeiten hier, der Altersdurchschnitt beträgt 24 Jahre. Mit seiner Didactic-Qualifizierungsplattform sei Festo an mehr als 600 Bildungseinrichtungen im Einsatz, gemeinsam arbeite man an der Qualifizierung für Industrie 4.0, so Zygadlo.

Viele Studierende kommen von der Universität Warschau und dort von der Fakultät Mechatronik. Seit 1971 unterhält Mariusz Olszewski, heute Professor an der Fakultät, Kontakte mit deutschen Firmen zwecks Austausch von Studierenden, schon in den 1970ern hat er Doktoranden in den Westen zu Festo geschickt. Auch heute arbeiten viele polnische Absolventen im Ausland, in Deutschland, den USA, Australien. Oder in der Schweiz, wo ein Absolvent mit einem Operationsroboter ein Start-up gegründet hat.

"In Polen wollte das niemand haben", sagt Olszewskis. Ob sich das so schnell ändert und die Polen im Ausland in die Heimat zurückkehren, wie es Tadeusz Koscinski gerne hätte? 30.000 Ärzte habe Polen ausgebildet, die nun im Ausland arbeiteten, ärgert sich der Vizeminister. Sie – und Ingenieure – zurückzuholen wird nicht einfach. Nicht nur Fabrikarbeiter werden schlechter bezahlt, auch Ingenieure verdienen laut Olszewski nur ein Viertel eines deutschen Ingenieurs.

Faktor vier bis fünf betrage der Lohnkostenvorteil eines polnischen Arbeiters, sagt Frank Maier, Vorstand Innovation beim Getriebehersteller Lenze. Damit ist der Unterschied in Wahrheit doppelt so groß wie die "offizielle" Angabe von Vizeminister Koscinski. Das Unternehmen aus Hameln fertigt in Tarnow seit 20 Jahren. Das Bild von der verlängerten Werkbank stimmt bei Lenze dennoch nicht mehr, die Fertigung ist auf höchstem technischen Niveau, Industrie 4.0 ist hier schon angekommen. So zeigt eine Instandhaltungsplattform auf Bildschirmen live mit Ampelfarben, an welchen Maschinen es Probleme gibt. "Früher hatten wir mehr rot als grün", sagt Maier, heute sei es umgekehrt.

Das liegt an einer Datenbank, aus der sich ableiten lässt, welche Störungen häufiger auftreten. Diese lassen sich dann vorausschauend beheben. Ganz vorne ist das Werk beim Thema Virtual Reality. Mitarbeiter setzen sich eine 3D-Brille auf und lernen neue Arbeitsschritte in einem virtuellen Fabrikabbild. Meier betont, dass diese Aktivitäten aus der Belegschaft stammen, die Instandhaltungsplattform wurde in Tarnow entwickelt. "Das betriebliche Vorschlagswesen von früher ist Zeitverschwendung", sagt Maier, "wir ermutigen unsere Mitarbeiter, ihre Ideen selbst umzusetzen."

Und was ist nun mit den umstrittenen Entscheidungen der polnischen Regierung? Maier gibt sich entspannt: "Regierungen kommen und gehen, man darf sich da nicht verrückt machen lassen." (bsc [1])


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