Prozess: Ließ sich Harvard-Forscher illegal von Peking bezahlen?

Charles Lieber, ein bekannter Nanotechnologieexperte, steht in den USA vor Gericht. Er soll Verbindungen zu einer chinesischen Universität vertuscht haben.

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(Bild: Weitwinkel/Shutterstock.com)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Jess Aloe
  • Eileen Guo
  • Antonio Regalado
Inhaltsverzeichnis

Im Januar 2020 kamen US-Regierungsbeamte an die Harvard-Universität, um nach Charles Lieber zu fahnden, einem renommierten Nanotechnologie-Forscher, der die Fachbereiche Chemie und chemische Biologie der Universität leitete. Sie wollten ihn verhaften, weil er seine finanziellen Verbindungen zu einer Universität in China verheimlicht haben soll. Mit der Verhaftung von Lieber, der sich nur wenige Schritte vom Unigelände entfernt befand, setzten die Behörden ein deutliches Zeichen an die amerikanische Wissenschaftsgemeinde: Das Verschweigen solcher Verbindungen sei ein schweres Verbrechen.

Nun steht Lieber seit dem 14. Dezember vor einem Bundesgericht in Boston vor Gericht. Er hat bereits auf "nicht schuldig" plädiert. Hunderte seiner Universitätskollegen haben Unterstützerschreiben unterzeichnet. Einige Kritiker sind der Meinung, dass nicht Lieber, sondern die sogenannte China-Initiative des US-Justizministeriums – eine 2018 gestartete, weitreichende Kampagne zur Bekämpfung chinesischer Wirtschaftsspionage und des Diebstahls von Firmengeheimnissen in den USA – vor Gericht stehen sollte. Sie bezeichnen die Verfolgung des Forschers als grundlegend falsch, als eine Hexenjagd, die die Transparenz in der Grundlagenforschung missversteht und selektiv wissenschaftliche Karrieren wegen finanziell geringer Vergehen und bürokratischer Fehler zerstört, ohne Beweise für tatsächliche Spionage oder geklaute Technik zu haben

Die Staatsanwälte glauben ihrerseits, dass sie einen sicheren Fall haben. Sie behaupten, dass Lieber im Rahmen von Chinas "Thousand Talents Plan" – einem Programm zur Anwerbung von Spitzenwissenschaftlern – ins Land geholt und für die Einrichtung eines Forschungslabors an der Technischen Universität von Wuhan großzügig bezahlt wurde. Er habe dieses Vorgehen vor den für die Vergabe akademischer Fördermittel zuständigen US-Behörden verheimlicht, als er danach gefragt wurde, heißt es in der Klageschrift. Lieber ist wegen insgesamt sechs Vergehen angeklagt: in zwei Fällen wegen Falschaussagen gegenüber Ermittlern, in zwei Fällen wegen der Abgabe einer falschen Steuererklärung und in zwei Fällen wegen der Nichtanmeldung eines ausländischen Bankkontos.

"Auf den Punkt gebracht wird die Regierung beweisen, dass Lieber absichtlich falsche Angaben gemacht hat, [...] um seine Karriere an der Harvard-Universität zu schützen", schrieb die Staatsanwaltschaft in einer letzte Woche eingereichten Zusammenfassung des Falls. Daraufhin entgegnete sein Verteidiger Marc Mukasey, dass die Regierung überhaupt nicht in der Lage sein werde, zu beweisen, dass Lieber "wissentlich, absichtlich oder vorsätzlich gehandelt hat oder dass er irgendeine wesentliche Falschaussage gemacht" habe.

Lieber ist der bislang prominenteste Forscher, der im Rahmen der "China-Initiative" angeklagt wurde – und einer von nur einer Handvoll Personen, die nicht chinesischer Abstammung sind. Die Klage gegen Lieber könnte für die Regierung, die mehrere ähnliche Fälle gegen US-Professoren laufen hat – die ihre Verbindungen zu China gegenüber den Bewilligungsbehörden nicht offengelegt haben sollen – eine zentrale Rolle spielen.

Andrew Lelling, ehemaliger US-Staatsanwalt für den Distrikt von Massachusetts, der einem Lenkungsausschuss der "China-Initiative" angehörte, bevor er die Behörde verließ und in die Privatwirtschaft wechselte, meinte, er wolle sich nicht zu einzelnen Fällen äußern, aber er erwarte, dass die Regierung Fälle wie den von Lieber erfolgreich durchfechten werde. "Meiner Ansicht nach führen Klagen gegen die Verletzung der Integrität der Forschung in der Regel zu einem Sieg für die Regierung. Sie haben sich wegen der Pandemie zwar enorm verlangsamt, so dass viele Prozesse in der Schwebe sind, aber ich denke, dass die Regierung die meisten davon gewinnen wird", so Lelling gegenüber MIT Technology Review.

Die "China-Initiative" wurde 2018 von Jeff Sessions, dem damaligen Justizminister der Trump-Regierung, als zentraler Bestandteil einer neuen und härteren Haltung der Regierung gegenüber China angekündigt. Eine Recherche der US-Ausgabe von MIT Technology Review ergab, dass die "China-Initiative" das Dach einer ganzen Reihe verschiedener Strafverfolgungsmaßnahen darstellt, die in irgendeiner Weise mit China in Verbindung stehen.

Betroffen sind hier nicht nur Forscher. Das weitere Ausmaß reicht von chinesischen Staatsangehörigen, die Schildkröten schmuggeln, bis hin zu von Peking angeblich finanzierten Hackern, die hinter einigen der größten Datenschutzskandale der Geschichte stehen sollen. MIT Technology Review hat insgesamt 77 Fälle ermittelt, die im Rahmen der Initiative eingeleitet wurden. Ein Viertel dieser Fälle führte bislang zu Schuldsprüchen oder Verurteilungen, aber fast zwei Drittel sind noch nicht abgeschlossen.

Liebers Fall ist die zweite Strafverfolgung eines Wissenschaftlers im Rahmen der China-Initiative, die vor Gericht kommt. Die einzige Person, die zuvor wegen der Verletzung der "Integrität der Forschung" vor einem Richter stand, war Anming Hu, Professor an der University of Tennessee-Knoxville. Er wurde im Juni von einem Richter von allen Vorwürfen freigesprochen, nachdem sich die Jury nicht auf eine Urteil einigen konnte. Laut der Recherchen sind fünf weitere Fälle anhängig, in denen US-Hochschulprofessoren angeklagt sind.

Dazu gehört auch der Fall von Gang Chen, einem MIT-Professor, der 2020 am Bostoner Flughafen Logan verhaftet wurde und dem unter anderem vorgeworfen wird, Fördermittelgeber getäuscht und ein ausländisches Bankkonto nicht angegeben zu haben. (Das MIT, das für Chens Verteidigung aufkommt, sagt, dass es sich bei der fraglichen Zusammenarbeit mit China um eine formelle Vereinbarung handelte, die die Hochschule selbst eingegangen war.)

Lieber, der mittlerweile von Harvard beurlaubt wurde, leitete ein bekanntes Labor, das sich auf die Schaffung von Silizium-Nanodraht-Systemen in den Bereichen Elektronik, Laser und neuronalen Netzen spezialisiert hat. Dort wird auch an einer Gehirn-Computer-Schnittstelle geforscht. Liebers Arbeit aus dem Jahr 2015, in der er das neuronale Netz vorstellte, war insofern typisch für die Arbeit seines Labors, als dass fast alle Autoren – 10 von 13 – einen chinesischen Namen trugen. Es handelte sich um Harvard-Doktoranden und Postdocs, von denen viele aus China für anspruchsvolle Aufgaben in der Spitzenchemie rekrutiert worden waren und als nächste Generation von Wissenschaftlern ausgebildet werden sollten.

David Liu, ein Spezialist für Gen-Editierung, der auch Professor an der chemischen Fakultät von Harvard ist, sagte, er sei über Liebers Situation aktuell nicht auf dem Laufenden. "Aber ich kann sagen, dass Charlie nicht nur ein Wissenschaftler von Weltrang war, sondern auch ein freundlicher und hingebungsvoller Mentor für Studenten und junge Kollegen." Und jemand, der sich unermüdlich und selbstlos für andere eingesetzt habe, wie Liu meint.

(bsc)