Später Akademiker – Studieren ohne Abitur

Manchmal führen erst lange Wege zum Ziel. Bildungskarrieren wie die von Daniel Bahner, 35, waren selten. Jetzt werden sie häufiger.

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Studierende in einer Bibliothek

(Bild: Iakov Filimonov/Shutterstock.com)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Peter Ilg
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Wenn eine Schülerin oder ein Schüler gleich nach dem Abitur ein Studium beginnt, ist schon mit 20 Jahren ein akademischer Abschluss machbar. Möglich machen das G7, also das Abitur nach der 12. Schulstufe und die Bologna-Reform mit Bachelor- und Master-Abschlüssen. So schnell geht es auf direktem Weg. Daniel Bahner hat seinen Bachelor-Abschluss mit 33 Jahren gemacht. Zwar als bester seines Jahrgangs, aber eben viel später als die meisten anderen Ingenieure. Bei seiner mittleren Reife ahnt der Jugendliche nicht, was nach seiner Lehre noch kommt.

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Bahner stammt aus Winnenden, nahe Stuttgart. Mit 17 beginnt er eine Lehre als Mechatroniker bei Stihl in Waiblingen, nur etwa zehn Kilometer von seiner Heimatstadt entfernt. Danach arbeitet er in der Dauererprobung und geht neben der Arbeit vier Jahre auf die Technikerschule. Er steigt im Job auf, macht höherwertige Tätigkeiten. Nach drei Jahren schreibt er sich für ein Mechatronik-Studium an der Weiterbildungseinrichtung der Hochschule Aalen ein, dem Graduate Campus. Ebenfalls nebenberuflich. "Mir wurde klar, dass mich nur ein Studium beruflich und fachlich wirklich weiterbringt", sagt Bahner. Er gehört zwar einer Minderheit an. Doch die nimmt stark zu.

Seit 2011 hat sich die Zahl der Studierenden ohne Abitur in Deutschland von rund 32.000 auf 70.000 mehr als verdoppelt. Das ist ein neuer Höchststand, der 2,4 Prozent der gesamten Studierendenschaft entspricht. Auch bei den Studienanfängern und -innen sowie Absolventen und -innen gibt es neue Höchstwerte. Dies zeigt die aktuelle Auswertung des Centrum für Hochschulentwicklung CHE auf Basis der jüngsten verfügbaren Daten aus dem Jahr 2021. "Ein zentraler Auslöser für die starke Zunahme des Studiums mit beruflicher Zugangsberechtigung war der Beschluss der Ministerkonferenz 2009, diese Möglichkeit flächendeckend in Deutschland einzuführen", sagt Sigrun Nickel, Leiterin der Hochschulforschung am CHE. Davor war dies nur in einigen Bundesländern möglich.

Studierende ohne Reifeprüfung haben ihre Zugangsberechtigung zur Hochschule beruflich erlangt. Entweder durch eine Facharbeiterprüfung, eine Weiterbildung zum Meister oder zum Techniker. In betriebswirtschaftlichen Studiengängen ist ein Betriebs- oder Fachwirt die Voraussetzung. Weil Bildung Ländersache ist, sind Voraussetzungen und Studienmöglichkeiten unterschiedlich. Im einen Land führen sie zur fachgebundenen, im anderen zur allgemeinen Hochschulreife.

Der Zehn-Jahres-Vergleich zeigt außerdem, dass es vor allem einen immensen Boom an privaten Hochschulen gibt: Fast die Hälfte aller Erstsemester ohne Abitur oder Fachhochschulreife schreiben sich dort ein. "An diesen Hochschulen kann sehr flexibel studiert werden, und das kommt diesem Personenkreis sehr entgegen", sagt Nickel. Im Ranking der beliebtesten Fächer liegen die Wirtschafts- vor den Ingenieurwissenschaften, zu denen die Informatik zählt, und dem Gesundheitswesen.

Durchschnittlich sind beruflich Qualifizierte mit 33 Jahren deutlich älter als traditionell Studierende und daher auch in einer anderen Lebenssituation als Jüngere. "Ihr Lebensstandard ist höher, sie haben finanzielle Verpflichtungen und wollen deshalb ihre Stelle oft nicht kündigen", sagt Nickel. Deshalb studieren sie häufig parallel zur Arbeit und bezahlen ihr Studium selbst.

Bahner dachte bereits nach seiner Mittleren Reife darüber nach, die Fachhochschulreife zu machen, um studieren zu können. Er war sogar auf einem Infoabend einer Schule in Stuttgart. "Dann gab es aber einschneidende Veränderungen in meiner Familie und ich musste meinen Lebensunterhalt fortan allein finanzieren." Das finanzielle Risiko, zuerst zur Schule und dann zum Studieren zu gehen, war ihm zu groß. Deshalb ging er weiterhin arbeiten und machte nebenher den Techniker: "Dass ich danach studieren würde, war mir zu Beginn der Technikerschule nicht bewusst."

Daniel Bahner

Freitagnachmittags und samstags ganztägig saß er in den Präsenz-Vorlesungen an der Hochschule. Sonntags und abends lernte er. "Das war schon eine harte Zeit", sagt Bahner. Zudem kostete es viel Geld: 21.800 Euro, zuzüglich Fahrtkosten. Als Ingenieur blieb Bahner Stihl und dem Dauertest treu und arbeitet dort nun als Versuchsingenieur. Er testet Heckenscheren, Spezialernter etwa zum Oliven schütteln und Reinigungsgeräte im Dauerlaufversuch.

An seinem ersten Arbeitstag als Ingenieur hatte er schon 16 Jahre Berufserfahrung in der Mechatronik bei Stihl. "Ich konnte ohne Einarbeitung starten und löse meine Aufgaben von der praktischen Seite aus." Wenn ein Vorgesetzter meint, man solle einen neuen Auftrag so oder ähnlich angehen, hat Bahner durchaus eigene Vorstellungen. "Die sage ich dann auch." Ingenieure ohne Praxiserfahrung versuchen es wie vorgegeben, und kommen deshalb womöglich später zu der Erkenntnis, dass es so nicht funktioniert. Das sei zwar nicht die Regel, komme aber regelmäßig vor, berichtet der Ingenieur.

Im Vergleich der Hochschultypen sind Fachhochschulen und Hochschulen für angewandte Wissenschaften bei Studierenden mit beruflicher Qualifikation am beliebtesten; rund drei Viertel aller Studienanfänger studieren dort. Rund ein Viertel aller Erstsemester dieser Gruppe sind allein an der IU Internationalen Hochschule eingeschrieben. Sie bietet Präsenzstudiengänge, duale Studienprogramme und Fernstudien an.

Gemeinsam mit der Fernuniversität Hagen und der Diploma Hochschule gehört die IU zu den Hochschulen mit den meisten Studieneinsteigern mit beruflicher Zugangsvoraussetzung. Rund neun von zehn der beruflich qualifizierten Studierenden absolvieren ein Bachelorstudium. Im Masterstudium ist diese Gruppe nach wie vor eher selten zu finden, wie die CHE-Auswertung zeigt.

Nach seinem Bachelor-Abschluss vor zwei Jahren brauchte Bahner Zeit zum Regenerieren, für seinen neuen Job und sein Privatleben. "In diesem Jahr werde ich heiraten." Danach kann er sich gut vorstellen, einen Master anzuhängen. Wenn, dann auch berufsbegleitend. Damit kennt Bahner sich bestens aus.

(ds)