Stammzellenlos: Wie Forscher alte Zellen zu neuen recyceln

Wissenschaftler können Nerven- oder Herzmuskelzellen aus verwandten Zellen im Gewebe entwickeln, ohne den Umweg über Stammzellen gehen zu müssen.

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(Bild: mk1one/Shutterstock.com)

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Von
  • Christian Wolf
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Krankes Gewebe durch frische und vitale Zellen zu ersetzen, ist ein Traum von Ärzten und Forschern. Lange führte dabei kein Weg an Stammzellen vorbei – den unprogrammierten Universalzellen, aus denen Herz-, Nerven-, Haut- und alle anderen Zellen entstehen können. Stammzellen für eine bestimmte Aufgabe zu programmieren, ist kompliziert: Nicht nur, dass es schwierig ist, fertige Zellen wieder in Stammzellen zurückzuverwandeln, um ihnen eine neue Aufgabe zu geben – im schlimmsten Fall geraten die neuen Zellen außer Kontrolle und bilden Tumore. Aus diesem Grund versuchen Forscher den Weg abzukürzen und bereits fertig entwickelten Zellen direkt eine neue Identität zu verschaffen, etwa im Kampf gegen Diabetes, berichtet Technology Review in seiner Ausgabe 5/2021, die ab Donnerstag am gut sortierten Kiosk sowie online im heise shop erhältlich ist.

Das Hormon Insulin regelt unseren Blutzuckerspiegel. Diabetiker mit einer Diabetes mellitus Typ 1 produzieren zu wenig von dem Hormon und müssen es ein Leben lang spritzen. Schuld daran ist der Untergang von insulinproduzierenden Betazellen in der Bauchspeicheldrüse. Eine echte Therapie wäre daher, zugrunde gegangene Betazellen durch neues funktionstüchtiges Gewebe zu ersetzen. Das haben Forscher um Qiao Zhou von der Harvard University versucht. Sie spritzten Mäusen mit fremden Genen beladene Viren in das Bauchspeicheldrüsengewebe, das den Verdauungssaft herstellt. Die Gene sind der Bauplan für Transkriptionsfaktoren, die entscheidend für die Bildung der Betazellen sind. Sie binden an die DNA und lösen aus, dass sich die Zellen verändern. Sie produzieren nicht länger Verdauungsenzyme, sondern verwandeln sich in insulinproduzierende Betazellen.

Ähnliche Erfolge erhofft man sich bei Parkinson. Bei dieser Erkrankung sterben Nervenzellen in der Substantia nigra im Mittelhirn ab, die den für die Bewegungssteuerung wichtigen Botenstoff Dopamin herstellen. Die Erkrankten verlieren zunehmend die Kontrolle über ihren Körper. Es gibt zwar Medikamente, mit denen man den Dopaminmangel im Gehirn zum Teil kompensieren und die Symptome lindern kann. Eine Therapie, die an der Wurzel ansetzt und das Absterben der Neurone verhindert, existiert allerdings nicht.

Xiang-Dong Fu von der University of California in San Diego sucht nach Wegen, neue Nervenzellen im Gehirn von Parkinson-Patienten zu gewinnen: Er wandelt Astrozyten in der Substantia nigra in Nervenzellen um. Eine der Hauptaufgaben der Astrozyten ist, das Zentralnervensystem zu stützen – wie eine Art Bindegewebe. Zudem stehen sie im regen Austausch mit den Neuronen, versorgen sie mit Nahrung und helfen beim Informationsmanagement. Um aus diesen Astrozyten Nervenzellen zu gewinnen, griff Fu ebenfalls in die Steuerung ihres Erbguts ein, allerdings nicht direkt an den Genen, sondern an der Abschrift: Er nutzt das Protein PTB (Polypyrimidin-Trakt-bindendes Protein). Es bindet an die Abschrift des Erbguts und steuert darüber, ob aus der Kopie der Gene tatsächlich ein Protein gebaut wird.

„In der Petrischale wurde schon mehrfach gezeigt, dass man Astrozyten in Neurone reprogrammieren kann“, sagt der Neurogenetiker Wolfgang Wurst vom Helmholtz Zentrum München. Fu gelang nun der Schritt in den lebenden Organismus – bei Mäusen mit Parkinson-ähnlichen Symptomen. Er nutzte adeno-assoziierte Viren als Fähren für RNA-Moleküle. Die kleinen RNA-Moleküle wirkten als PTB-Blocker, legten Astrozyten-Gene still und aktivierten Neuronen-Gene. Die Astrozyten verwandelten sich daraufhin in Neurone, die Dopamin produzierten – die Symptome der Parkinson-Mäuse wurden schwächer. „Bisher war diese Reprogrammierung in lebenden Organismen nicht sehr effizient“, sagt Wurst, daher sei diese Studie ein Meilenstein. Bei Parkinson seien allerdings nicht nur dopaminproduzierende Neurone betroffen, sondern ganze neuronale Netzwerke. „Da stellt sich die Frage, ob diese nachgeschalteten Neurone durch den Ansatz von Fu und seinen Kollegen auch repariert werden.“

Zudem sei es noch etwas zu früh, die direkte Umprogrammierung von Zellen in ersten klinischen Studien auf die Probe zu stellen, sagt der Systembiologe Baris Tursun vom Berlin Institute for Medical Systems Biology (BIMSB). „Beim Einbringen von Viren als Genfähren kann es zu Kollateralschäden kommen, indem andere Zellen als gewünscht umprogrammiert werden.“ Zudem können Virengene durchaus im Erbgut der Körperzellen überdauern, später wieder aktiv werden und unvorhersehbare Veränderungen bewirken.

Um das Problem mit Viren als Transportvehikel zu umgehen, setzt der Jongpil Kim von der Dongguk University in Südkorea auf Nanopartikel. Er will Bindegewebe in Herzmuskelzellen umwandeln, um Herzinfarkt-Patienten zu helfen. In seine Nanopartikel hat er Transkriptionsfaktoren eingebaut, die für die Entwicklung des Herzens wichtig sind. Die Forscher injizierten die Nanopartikel in das Herzgewebe von Mäusen, bei denen sie zuvor künstlich einen Herzinfarkt ausgelöst hatten. Daraufhin verwandelten sich Bindegewebszellen des Herzens in Herzmuskelzellen, die Größe des Infarkts verringerte und die Herzleistung verbesserte sich.

TR 5/2021

Für Baris Tursun ist einer der nächsten Schritte, genauer zu erforschen, welche Wege am besten geeignet sind, um Faktoren zur Umprogrammierung in die Zellen zu bringen. „Diese sollen ja zielgerichtet nur bestimmte Zellen direkt umprogrammieren.“ Tursun sieht die Zukunft des direkten Umprogrammierens an Patienten besonders in vergleichsweise isolierten Geweben wie etwa der Bauchspeicheldrüse für die Insulinproduktion – und nicht in so komplexen Organen wie dem Gehirn mit seinem hohen Vernetzungsgrad.

(bsc)