Unesco-Bildungsbericht: So prüfe, wer sich ewig an digitale Lern-Angebote bindet

Die deutsche Fassung des Berichts stellt klar, dass nicht jeder Einsatz von Technik in der Bildung sinnvoll ist und Regierungen Angebote genau prüfen sollten.

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(Bild: Dragon Images/ Shutterstock.com)

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Inhaltsverzeichnis

Die deutsche Kurzfassung des Unesco-Weltbildungsberichts für das Jahr 2023, die am heutigen Montag in Berlin vorgestellt wird, macht mit einigen sehr starken Kernaussagen auf sich aufmerksam: Zum einen gebe es nur "wenige belastbare Belege für den Mehrwert von digitalen Medien in der Bildung". Ein Großteil der Studien zum Wirken digitaler Medien in der Bildung stamme "von den Anbietern, die die Produkte verkaufen wollen." Zum anderen verhelfe Technik zu mehr Teilhabe an Bildung; könne etwa Zugriff auf mehr Lernmaterial auch ohne Ortsbindung ermöglichen. Das bedeute auch: Das Recht auf Bildung ist zunehmend gleichbedeutend mit dem Recht auf einen verlässlichen Internetanschluss. Dieser Zugang sei auf der Welt aber sehr ungleich verteilt.

Schlussendlich will sich die deutsche Kurzfassung des Berichts nicht festlegen, wie gut oder schlecht digitale Medien in der Bildung weltweit wirken. Ein Nutzen sei da, aber hänge von etlichen Rahmenbedingungen ab. Der Weltbildungsbericht 2023 wurde von der Unesco bereits im Juli dieses Jahres auf Englisch vorgelegt.

Ein Hauptanliegen im Bericht wird schnell deutlich: Es müsse klare Zielsetzungen und Grundsätze geben, "um sicherzustellen, dass der Einsatz von digitalen Medien Nutzen bringt und Schaden vermeidet." Zu den negativen und schädlichen Aspekten der Nutzung digitaler Medien in Bildung und Gesellschaft gehören der Unesco zufolge deren Ablenkungsgefahr und der Verlust an zwischenmenschlichem Kontakt. Zu viel Bildschirmzeit könne sich körperlich und seelisch negativ auswirken und etwa das situative Lernen durch gegenseitiges Beobachten in realen Situationen verloren gehen.

Einer der Vorteile digitaler Medien und des Internets sei, dass die Lernenden unabhängig voneinander oder vernetzt miteinander lernen könnten und es viele Angebote sowohl für das formelle als auch das informelle Lernen gebe. Auch wird mit dem Technikeinsatz die Hoffnung verbunden, dass bestimmte Lernformate automatisiert werden können, sodass Lehrende und Lernende mehr Zeit "für andere, pädagogisch sinnvollere Aktivitäten nutzen können"; in dieser Hinsicht spiele auch KI eine Rolle. Die verschiedenen digitalen Lernangebote brächten durch ihr jeweils eigenes Design, eigene Inhalte und eine eigene Pädagogik auch die Möglichkeit mit sich, "verschiedene Arten des Lernens [zu] fördern".

Demgegenüber würden unregulierte Technologien eine Bedrohung für Demokratie und Menschenrechte darstellen – beispielsweise durch Verletzungen der Privatsphäre und das Schüren von Hass. Dementsprechend müssten Bildungssysteme besser darauf eingestellt sein, über und mit digitalen Medien zu unterrichten – "als Werkzeug, das den besten Interessen aller Lernenden, Lehrkräfte und der Verwaltung dienen muss." Gute Beispiele für den Einsatz digitaler Medien und unvoreingenommene Erkenntnisse hierzu sollten in größerem Umfang verbreitet werden, fordert die Unesco.

Dem Bericht zufolge hätten in den vergangenen 20 Jahren Lernende, Lehrende und Institutionen weltweit digitale Medien auf breiter Front eingeführt. So lag der weltweite Anteil derer, die das Internet nutzen, im Jahr 2005 bei 16 Prozent, im Jahr 2022 schon bei 66 Prozent. Im Jahr 2022 verfügten auch etwa 50 Prozent der Schulen der unteren Sekundarstufe weltweit über eine Internetverbindung für pädagogische Zwecke. Zumindest in den reichen Ländern hätten junge Menschen ihre Grundfertigkeiten um vielfältige neue Kompetenzen erweitert.

Wie der Bericht aber auch darstellt, vollziehe sich der Wandel, der sich aus dem Einsatz digitaler Medien ergibt, nur schrittweise, ungleichmäßig und er sei in manchen Kontexten größer als in anderen. Ob und wie digitale Medien angewandt werden, hänge vom Umfeld, dem sozioökonomischen Hintergrund, von der Motivation und der Vorbereitung der Lehrkräfte, vom Bildungsniveau und von der Finanzkraft des Landes ab – kann also sehr stark variieren.

Mit Ausnahme der technologisch fortschrittlichsten Länder würden Computer und andere Geräte im Klassenzimmer nicht in großem Maßstab eingesetzt. Die kurz- und langfristigen Kosten des Einsatzes digitaler Medien würden zudem "offenbar erheblich unterschätzt". Laut Unesco könnten Kinder aus Ländern mit niedrigem Einkommen mittlerweile auch ohne digitale Medien eine Grundbildung erhalten, wahrscheinlich werde diese aber an Relevanz verlieren.

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zum Ziel der Bildung müsse dementsprechend mit der Zeit gehen: "Eine erweiterte Definition des Rechts auf Bildung könnte die wirksame Unterstützung durch digitale Medien aller Lernenden einschließen, damit diese ihr Potenzial ausschöpfen können, unabhängig von Kontext und Umständen."

Vage und teils sogar widersprüchlich bleibt der Bericht, wenn es um den generellen Nutzen digitaler Medien und ihres Einsatzes im Bildungsbereich geht. Das liege an der Heterogenität der Anwendungsbereiche und der Zielgruppen. Er zählt gängige Überzeugungen zu den Vor- und Nachteilen auf und subsumiert dann: "Kurz gesagt: Wir verfügen zwar über viele allgemeine Forschungsarbeiten zum Lernen mit digitalen Medien. Der Umfang der Forschung zu konkreten Anwendungen und Rahmenbedingungen ist jedoch unzureichend, sodass es schwierig ist, nachzuweisen, dass eine bestimmte Technologie eine bestimmte Art des Lernens fördert."

Die rasante Geschwindigkeit des technologischen Wandels setze die Bildungssysteme aber unter einen Anpassungsdruck. Technologie werde oft zur Überbrückung von Engpässen gekauft, ohne Berücksichtigung der langfristigen Kosten für die öffentlichen Haushalte. Auch habe sich gezeigt, dass die eingesetzte Technik je nach Anwendungsfall nicht besonders ausgefeilt sein muss. So hätte China qualitativ hochwertige Unterrichtsaufzeichnungen für 100 Millionen Lernende in ländlichen Gebieten bereitgestellt. Dadurch konnten die Ergebnisse der Lernenden um 32 Prozent verbessert und die Einkommensunterschiede zwischen Stadt und Land um 38 Prozent verringert werden.

Außerdem wird angemerkt, dass einige der aktuell eingesetzten Tools nicht für den Einsatz im Bildungsbereich konzipiert wurden. Bisher sei nicht genügend darauf geachtet worden, wie "diese Tools in der Bildung genutzt werden, und noch weniger darauf, wie die Anwendung in unterschiedlichen Bildungskontexten ausgerichtet werden sollte."

Bildungsqualität sei ein vielschichtiges Konzept, wird erklärt. Dazu gehörten angemessen Voraussetzungen (wie etwa die Infrastruktur), "entsprechend qualifizierte Lehrkräfte (z. B. Standards für den Einsatz von digitalen Medien im Unterricht), einschlägige Lerninhalte (z. B. Einbeziehung digitaler Kompetenzen in den Lehrplan) und konkrete Lernergebnisse (z. B. Mindestanforderungen an das Leistungsniveau in den Bereichen Lesen und Mathematik)". Die Qualität von Bildung solle laut Bericht aber auch soziale Auswirkungen berücksichtigen.

Lernende seien nicht einfach nur Gefäße, die Wissen in sich aufnehmen sollten: "Sie müssen auch in der Lage sein, ihr Wissen so anzuwenden, dass sie zu einer nachhaltigen Entwicklung in sozialer, wirtschaftlicher und ökologischer Hinsicht beitragen."

Kritik übt der Bericht deshalb auch an Bildungsversprechen durch Anbieter digitaler Medien und Lernangebote. So wird hinterfragt: "Wer definiert den Rahmen für die Probleme, die mit digitalen Medien gelöst werden sollen? Welche Folgen entstehen daraus für die Bildung?" Der Hype solle von der Substanz unterschieden werden. Von digitalen Bildungsunternehmen und dem Technologiesektor gehe ein erheblicher Druck aus. Der Bericht konstatiert: "Das Bildungswesen wird dafür kritisiert, dass es sich nur langsam verändere, in der Vergangenheit verhaftet sei und in Sachen Innovation hinterherhinke. Eine solche Darstellung spielt mit der Faszination der Menschen für Neues, aber auch mit ihrer Angst, abgehängt zu werden."

Regierungen rät der Bericht deshalb Stellen zur "Evaluierung von Bildungstechnologien ein[zu]richten, die mit allen Akteuren zusammenarbeiten, unabhängige und unvoreingenommene Forschung betreiben und klare Standards und Kriterien für die Evaluation festlegen – alles ausgerichtet auf das Ziel, evidenzbasierte politische Entscheidungen über Bildungstechnologien treffen zu können."

Auch Künstliche Intelligenz wird in dem Bericht ambivalent betrachtet. Übernimmt KI zukünftig mehr repetitive Aufgaben, werden "mehr Arbeitsplätze Denkfähigkeiten höherer Ordnung erfordern". Bildungssysteme müssten sich daran anpassen; Prüfungssysteme ebenfalls, um eruieren zu können, welche Kompetenzen Menschen tatsächlich erreicht haben und welche Leistungen von Maschinen erbracht wurden. Da generative KI schnell Antworten auf Fragen geben könne, könne auch die Motivation der Lernenden leiden. Der Bericht stellt überdies infrage, inwieweit Chatbots tatsächlich das Lernen verbessern werden. Eher sollte die "Personalisierung in der Bildung [...] für die Lernenden unterschiedliche Lernpfade ermöglichen, nicht damit alle das gleiche Lernniveau erreichen, sondern damit alle ihr individuelles Potenzial ausschöpfen können."

Das Resümee zu KI in der Bildung fällt wie folgt aus:

"Wir müssen uns darüber klar werden, was gute Bildung in einer von künstlicher Intelligenz geprägten Welt bedeutet. Angesichts neuer technologischer Werkzeuge dürfte die ideale Antwort nicht in einer zusätzlichen Spezialisierung auf technologiebezogene Themen liegen. Stattdessen brauchen wir ein ausgewogenes Curriculum, in dem der Stellenwert von Kunst und Geisteswissenschaften erhalten bleibt, wenn nicht sogar gestärkt wird, sodass wir Lernziele wie Verantwortung, Empathie, moralischer Kompass, Kreativität und Zusammenarbeit fördern. Die Implikation von intelligenten tutoriellen Systemen kann nicht darin bestehen, dass künstliche Intelligenz die Lehrkräfte gänzlich ersetzt, sondern dass den Lehrkräften mehr denn je die Verantwortung zukommt, unsere Gesellschaften bei der Orientierung in dieser kritischen Phase zu unterstützen. Es entwickelt sich ein Konsens über die Notwendigkeit, die Vorteile der künstlichen Intelligenz zu nutzen und gleichzeitig die Risiken ihres unkontrollierten Einsatzes durch Regelungen in Bezug auf Ethik, Verantwortung und Sicherheit zu beseitigen."

Letztendlich fordert der Bericht: Bildungssysteme bräuchten einen gleichberechtigten Zugang, eine angemessene Governance und Regulierung sowie ausreichende Lehrkräftekapazitäten. Technologie in der Bildung solle evidenzbasiert eingeführt werden, "also auf Grundlage von Nachweisen, dass sie geeignet, chancengerecht, skalierbar und nachhaltig ist. Mit anderen Worten: Ihr Einsatz sollte im besten Interesse der Lernenden liegen und die zwischenmenschliche Interaktion ergänzen. Digitale Medien sollten als Werkzeug verstanden werden, das unter diesen Bedingungen genutzt werden kann." Lehrpläne seien so zu reformieren, dass sie auf die Vermittlung von Grundfertigkeiten ausgerichtet sind, die am besten zu denjenigen digitalen Werkzeugen passen, die nachweislich das Lernen verbessern.

Digitale Kompetenzen sollten zudem breit gefächert und unabhängig von spezifischen Technologien aufgebaut werden – damit spricht sich der Bericht klar gegen einen Lock-in an Schulen aus, vor dem unter anderem auch das Bildungsprojekt CMS (Chaos macht Schule) des CCC zu Beginn der Corona-Pandemie warnte. In diesem Kontext rät der Bericht, dass Regierungen "digitale öffentliche Güter" in der Bildung fördern sollten, "einschließlich frei zugänglicher EPUB-Formate, anpassbaren Open Educational Resources, Lernplattformen und Anwendungen zur Unterstützung der Lehrkräfte, die alle so konzipiert sind, dass sie niemanden abhängen." Der Bericht hebt hervor, dass es im Zusammenhang mit dem Bereitstellen von Open Educational Resources und dem Internet als Zugang zu Bildungsmaterialien "oft gebrochene Versprechen" gebe.

Auch die Auswirkungen auf Umwelt und Klima durch Anschaffungen in Bildungssystemen macht der Bericht aufmerksam. Nicht nachhaltige Angebote seien zu vermeiden, die kurz- und langfristigen Auswirkungen zu beachten.

Um sichere (digitale) Räume bereitstellen zu können, müssten auch Gesetze, Standards und eine "anerkannte gute Praxis" eingeführt und umgesetzt werden, "mit denen die Menschenrechte, das Wohlbefinden und die Online-Sicherheit von Lernenden und Lehrenden geschützt werden, unter Berücksichtigung von Bildschirm- und Onlinezeiten, von Privatsphäre und Datenschutz." Die Überwachung von Lernenden und Lehrenden solle verhindert werden, Daten, die im Zuge des digitalen Lernens und darüber hinaus generiert werden, dürften nur als öffentliches Gut analysiert werden. Vor kommerzieller Werbung in Bildungsumgebungen sollten Nutzer geschützt werden, der ethische "Einsatz künstlicher Intelligenz in der Bildung" sei zu regulieren. Die Unesco mahnt: "Nicht jede Veränderung stellt einen Fortschritt dar. Nur weil etwas getan werden kann, heißt das nicht, dass es auch getan werden sollte."

Zugleich gibt der Bericht zu bedenken, dass formale Bildung nicht unbedingt der wichtigste Faktor sei, um digitale Kompetenzen zu erwerben. "Etwa ein Viertel der Erwachsenen in den EU-Ländern, zwischen 16 Prozent in Italien und 40 Prozent in Schweden, hatte seine Fähigkeiten in einer "Einrichtung für formalisierte Bildung" erworben. Informelles Lernen, wie Selbststudium und informelle Unterstützung durch Kolleg/innen, Verwandte und Freund/innen, wurde von doppelt so vielen genutzt."

Um dem Anspruch an Qualität und Zugang zu (digitaler) Bildung besser gerecht zu werden, schlägt der Bericht folgende Fragen als Diskussionsgrundlage vor:

- "Chancengerechtigkeit und Inklusion: Ist die Umsetzung des Rechts auf Wahlfreiheit in der Bildung und die Ausschöpfung des eigenen Potenzials durch Bildung mit dem Ziel der Gleichberechtigung vereinbar? Wenn nicht, wie kann Bildung zum Ausgleichsfaktor werden?

- Qualität: Unterstützen Inhalte und Vermittlung von Bildung die Gesellschaften bei der Verwirklichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung? Wenn nicht, wie kann Bildung den Lernenden helfen, nicht nur Wissen zu erwerben, sondern auch Veränderungen zu gestalten?

- Effizienz: Unterstützt das gegenwärtige institutionelle Arrangement von Unterricht in Klassenzimmern das Erreichen von Chancengerechtigkeit und Qualität? Falls nicht, wie kann Bildung zum Gleichgewicht zwischen individuellem Unterricht und sozialen Bedürfnissen beitragen?"

Die deutsche Übersetzung der Kurzfassung des Weltbildungsberichts wird bei einer gemeinsamen Veranstaltung des Auswärtigen Amts, des Bundesministeriums für Bildung und Forschung sowie des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung am 27.11.2023 vorgestellt. Es sollen die Ergebnisse und Empfehlungen des Berichts vorgestellt und im Hinblick auf die Situation in Deutschland diskutiert werden.

Eine Gruppe bekannter Digitalisierungskritiker veröffentlichte im Vorfeld der Veranstaltung Kritik an der aktuellen Digitalisierungspolitik in der Bildung. Sie fordern einen vorübergehenden Stopp der Digitalisierung an Schulen und vorschulischen Bildungseinrichtungen wie Kitas und berufen sich dabei auch auf den aktuellen Weltbildungsbericht der Unesco.

Anlässlich der Veröffentlichung fordert die Präsidentin der Deutschen UNESCO-Kommission, Maria Böhmer: "Der versierte Umgang mit digitalen Technologien wird immer mehr zur Voraussetzung dafür, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Digitalisierung muss zur Bildungsqualität genauso beitragen wie zu mehr Bildungsgerechtigkeit. Dafür muss sie auf die individuelle Förderung aller Lernenden ausgerichtet werden. Wir müssen Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte in die Lage versetzen, Technologien kritisch zu bewerten und verantwortungsvoll zu nutzen. Medienkompetenz ist dafür entscheidend."

(kbe)