Verriss des Monats: Angriff der Klon-Karten

Bisher waren Spiele ein Satz Regeln, mit dem sich die Welt zu einem überschaubaren und vergnüglichen Bereich verkleinern ließ. Nun gibt es Spiele, die man nicht mehr spielen kann. In der App "Star Wars: Card Trader" muss man Sammelbilder handeln – oder sie anderswo für reales Geld kaufen.

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Von
  • Peter Glaser
Inhaltsverzeichnis

Bisher waren Spiele ein Satz Regeln, mit dem sich die Welt zu einem überschaubaren und vergnüglichen Bereich verkleinern ließ. Nun gibt es Spiele, die man nicht mehr spielen kann. In der App "Star Wars: Card Trader" muss man Sammelbilder handeln – oder sie anderswo für reales Geld kaufen.

Die Kunst des gepflegten Verreißens zweifelhafter Produkte ist ein wenig aus der Mode gekommen. An dieser Stelle präsentiert unser Kolumnist Peter Glaser einmal im Monat deshalb eine Rezension der etwas anderen Art: den Verriss des Monats. Vorschläge für besonders zu würdigende Produkte werden gerne per Mail entgegengenommen.

Als neulich auf Ebay ein JPEG für 250 Dollar verkauft wurde, war die Aufregung groß. Ja, ein JPEG. Für 200 Euro. Eine digitale "Sammelkarte" aus der App "Star Wars: Card Trader". Bizarrer Weise ist darauf ein auf alt und abgenutzt gemachtes Bild von Harrison Ford alias Han Solo zu sehen – etwas, das den Wert der Karte merklich mindern würde, wenn sie ein physisches Objekt wäre.

Da es sich aber um ein digitales Blatt handelt, gelten andere Kriterien für den Preis, hier ist es eine künstlich herbeigeführte Seltenheit. Während viele der "Karten" in rauhen Mengen verfügbar sind, gibt es den Vintage-Han Solo nur 1.500 mal. Das weckt Begehrlichkeiten bei den Leuten, die gern die Serie, zu der Han Solo gehört, komplett hätten. Und warum ist Han Solo so selten? Weil die Firma Topps, von der die "Karten"-Jpegs vertrieben werden, es so will.

Zehntausende von Star Wars-Fans haben sich die kostenlose Card Trader-App gesaugt. Neu daran ist nicht nur, dass die "Sammelkarten" virtuell sind. Card Trader ist ein Spiel, das man nicht spielen kann. Bisher konnte man mit Sammelkarten auch zum Teil recht komplexe Matches durchführen, so etwa mit dem Klassiker der modernen Sammelkarte – Yu-Gi-Oh! Das 1999 veröffentlichte Spiel war ursprünglich als Merchandising-Produkt für die gleichnamige japanische Manga-Serie gedacht, hat inzwischen aber mit weltweit ausgetragenen Turnieren und einem immer weiter wachsenden Bestand von mehr als 6.000 verschiedenen Karten ein formidables Eigenleben entwickelt.

Auch einzelne dieser Glanzpappe-Karten können bis zu 100 Euro bringen. Mit Star Wars: Card Trader kann man nur machen, was der Titel verspricht: Karten handeln. Kaufen, verkaufen, tauschen. Es gibt, wenn man die App regelmäßig öffnet, kostenlos virtuelle Gutpunkte, die man anhäufen kann, um damit neue Karten-Decks zu erwerben. Aber bei bestimmten Karten, bei der Komplettierung bestimmter Serien, möchten echte Sammler die Zufuhr von Glück gern etwas beschleunigen, indem sie nicht warten, bis ihnen der Zufall in die Hände spielt, sondern ihrer Ungeduld nachgeben und die fehlenden oder besonders begehrten Blätter kaufen.

Wobei man sagen muss, dass Mondpreise ja Sammlern im allgemeinen keineswegs fremd sind. Kunstsammler dürfen schon mal ein wenig tiefer in die Tasche greifen, um etwa einen Picasso zu ergattern. Im Mai 2015 wurde eines der 15 Bilder aus der Serie "Die Frauen von Algier", die Picasso Mitte der Fünfzigerjahre gemalt hat, für 179,4 Millionen Dollar (158 Millionen Euro) verkauft und damit zum derzeit teuersten Gemälde der Welt. Mit kleineren Papierstückchen kennen sich auch Briefmarkensammler gut aus, prominent: die weltweit noch 12 existierenden Exemplare (von ursprünglich 500) der sogenannten Blauen Mauritius, von denen eine gestempelte Version bei einer Auktion in London 2011 einen Preis von 900.000 Pfund (etwa 1.060.000 Euro) erzielte.

Als Star Wars 1977 ins Kino kam, gab es noch herkömmlich gedruckte Star Wars-Sammelkarten zu kaufen und ein paar Jahr später, als die neue Trilogie zu sehen war, nochmal, nur diesmal wesentlich mehr davon. Es gab sie nicht nur in den USA, sondern in verschiedenen Ländern in verschiedenen Formaten mit verschiedenen Motiven. Besonders rare dieser Star Wars-Karten können mehrere tausend Dollar wert sein. Es gibt eine Reihe von Karten-Sets, die niemand komplett hat, zum Beispiel ein Set aus Argentinien oder eines aus Costa Rica – aus schlechtem Papier, sind die meisten davon inzwischen längst zerfallen. Zudem gibt es in diesen Ländern keine Sammlerkultur und die Karten wurden zumeist von Kindern gekauft, die irgendwann das Interesse daran verloren haben.

In den USA, Europa und Japan kann Sammeln eine todernste Sache sein. Für Hardcore-Sammler gibt es in den USA so etwas wie Rating-Agenturen, die Karten nach einem 10-Punkte-System bewerten, und zwar im wahrsten Sinn des Wortes. Eine mit 10 bewertete Karte in perfekter Qualität kann einen deutlich höheren Preis oder Tauschwert aufrufen als ein geringer bewertetes Blatt. Wie kostbare archäologische Fundstücke werden die einzelnen Karten dazu in Plastik-Cases untergebracht und, beispielsweise, an die Firma Professional Sports Authenticator (PSA) geschickt, die fünf Dollar pro sozusagen TÜV-geprüfter Karte nimmt. Profis schicken mehrere Karten mit dem selben Motiv los, um sicherzustellen, dass zumindest eine die höchste Bewertung bekommt – ein nicht ganz billiger Spaß, wenn man etwa ein aus 330 Karten bestehendes Set bewertet haben möchte, und ein Teil der Erklärung für die bemerkenswerten Preise dieser Sammlerobjekte.

Paul Holstein, einer der amerikanischen Hardcore-Sammelkartensammler, weiß von einer Baseball-Sammelkarte mit dem legendären Spieler Honus "The Flying Dutchman" Wagner, für die im April bei einer Auktion 1,32 Millionen Dollar bezahlt wurden. "Eine Karte", so Holstein. "Und es gibt eine Menge Karten, die viele Tausend oder sogar Zehntausende von Dollar wert sind."

Dass sich nun auch digitale Objekte mit diesen gleichermaßen fiktiven wie realen Werten aufzuladen beginnen, zeigt aber nochmal neuen Diskussionsbedarf. Germain Lussier schrieb in dem Blog io9 einen Essay über Sammelleidenschaft im 21. Jahrhundert, auf Reddit geht es zu wie bei der Sammelkartenversion der Anonymen Alkoholiker und das Technikportal The Verge konstatiert in originalverdrehter Yoda-Sprache: "Leave you broke, Star Wars digital trading cards will".

Verbreitete Karten und Kartensätze werden auf Ebay schon für kleines Geld angeboten, etwa ein gelb umrandeter Darth Vader für 1,50 Dollar. Kurios: Die Kosten für den "internationalen Expressversand" dieser digitalen Spielkarte liegen laut Ebay bei 14,24 Dollar, also beim Neuneinhalbfachen des Warenwerts. Lieferzeitraum: neun Tage. Das Produktfoto, das die Auktionsofferte illustriert, entspricht ziemlich genau dem, was man dann, 15,74 Dollar ärmer, ein bis zwei Wochen später nochmal, kopiergeschützt und verriegelt, innerhalb der Card Trader-App bekommt.

Die Betreiber von Star Wars: Card Trader haben aus den Fehlern ihrer Vorgänger bei dem Versuch, digitales Geld zu echtem zu machen, gelernt. Ende 2006 etwa drohte in Second Life (SL), einer virtuellen Welt mit Realwirtschaft, das künstliche Wirtschaftssystem aus den Fugen zu geraten. Es hatte mit einer Handvoll Hacker begonnen, die – mit Zustimmung der Betreiberfirma – eine Open-Source-Version des SL-Clients geschrieben. Die Software stellte eine, jedenfalls in Second Life, revolutionäre Möglichkeit zur Verfügung: das Kopieren. Viele Anwohner waren außer sich. Ein Avatar in Gestalt einer kleinen rosa Katze saß herum und verkaufte das Kopierprogramm. Die Anbieter virtueller Produkte, von Bars über Nachtclubs bis hin zu Klamotten- und Schmuckläden, schlossen aus Angst vor dem CopyBot ihre Geschäfte. Die Betreiberfirma entschuldigte sich bei der Community und änderte die Geschäftsbedingungen. Kopieren war nun illegal.

Sofern man mit digitalisierbaren Gütern handelt, funktioniert das Geldverdienen im Netz nach den klassischen Vertriebsmodellen nur, wenn man das, was einem das Internet auf eine fundamental neue Weise leichtmacht und so offensiv wie selbstverständlich in die Hände legt – nämlich das einfache und schnelle Kopieren und Teilen von Daten –, blockiert und strikt reglementiert. Das ganze erinnert an das Prinzip von Partyspielen, bei denen es darum geht, einen einfachen Vorgang möglichst umständlich und schwierig zu machen und daraus Vergnügen zu ziehen (zum Beispiel mit auf den Rücken gebundenen Armen und einem Suppenlöffel zwischen den Zähnen ein rohes Ei in einem Wettlauf ins Ziel zu balancieren, ohne dass es einem vom Löffel fällt).

Wobei es angesichts dessen, was mit den Sammlern der digitalen Karten-JPEGs veranstaltet wird, doch die Frage ist, wie weit das Vergnügen noch auf Gegenseitigkeit beruht oder ob hier nicht eine Obsession meist jugendlicher Sammler, der viele selbst die Züge einer Sucht zuerkennen, ganz gezielt ausgebeutet wird. Denn natürlich ist es Berechnung, nach der Firmen wie Topps vorgehen. Welche Karte wann und wie oft auftaucht, bleibt nicht dem Zufall überlassen, sondern wird, ökonomisch gesagt, auf maximale Wertschöpfung hin optimiert. Das Reizvolle an Spielen ist eigentlich der Freiraum, durch den man innerhalb der festgesetzten Regeln mit Geschick oder Fortüne ans Ziel gelangen kann. Das hier aber ist kein Spiel mehr, sondern eine automatisierte Mikromelkmaschine für kartensüchtige Kollektoren. Der Algorithmus, dem sich Sammelkarten-Fans ausliefern, um ihre Alben vollkleben und ihre Sets komplettieren zu können, ist im Lauf der Jahre immer komplexer geworden.

Das Ganze gibt es auch in Form einer geknackten mathematischen Nuss. Das sogenannte Sammelbilderproblem befasst sich mit der Frage, wie viele Bilder man aus einer Serie von Sammelbildern kaufen muss, um die Serie zu komplettieren. Das einfache Sammler-Problem versucht zu klären, wie viele Sammelbilder man braucht, um ein Sammelalbum zu füllen. So werden zum Beispiel durchschnittlich 224,96 Sammelbilder benötigt, um ein Album mit n = 50 Bildern zu füllen (Das Panini-Album zur Fußball-Weltmeisterschaft 2014 würde in der Schweiz so 931 Franken kosten).

In dem gleichermaßen trockenen wie erhellenden Wikipedia-Artikel zu dieser speziellen Frage wird ein Rechenbeispiel mit Pokémon-Karten aufgemacht, ebenfalls ein Trading Card-Spiel. Angenommen wird, dass es 150 verschiedene Motive auf einzeln verpackten Karten gibt. Für ein klassisches Sammelalbum müsste man im Schnitt 839 Karten kaufen. Dass es sich um ein Trading Card-Spiel handelt – es also mehr als fünf unterschiedliche Kartentypen mit unterschiedlichen Seltenheitsgraden, von normal bis extrem selten, gibt –, macht einen bedeutenden Unterschied. Nimmt man beispielsweise zwei Kartentypen, bei denen 30 von 150 Karten nur halb so oft vorkommen wie beim klassischen Album-Sammeln, müsste der Sammler im Schnitt bereits 1.213 Karten kaufen. Gibt es 10 sehr seltene Karten, die zehnmal seltener auftreten, bräuchte er sogar schon 4.372 Karten. Nachkaufen und Tauschen haben also eine wesentlich größere Bedeutung als beim herkömmlichen Sammeln.

Und es geht immer weiter in die Uferlosigkeit. Für Star Wars: Card Trader gibt es seit kurzem neue "Mint Press"-Karten ("Mint Condition" bezeichnet bei Sammlerstücken erstklassigen, neuwertigen Erhaltungsgrad). Und auch diese "Mint Press"-JPEGs kommen in verschiedenen Seltenheitsgraden, die seltenste davon ist die "black" mint, von der nur 50 Stück ausgegeben werden. Wenn man das mit den 1.500 Stück vergleicht, die von dem zerknitterungssimulierten Han Solo in Umlauf gebracht wurden, kann man sich lebhaft vorstellen, dass die "Mint Press"-Bilder sogar noch höhere Preise als die aktuellen Skandal-Blätter aufrufen könnten.

An die Vorstellung, dass jemand bereit ist, für ein digitales Objekt reales Geld zu bezahlen – manchmal ungewöhnlich viel – müssen viele Menschen sich erst noch gewöhnen. "Pädagogen mögen von schleichendem Realitätsverlust sprechen", schreiben Holm Friebe und Sascha Lobo in ihrem Buch "Wir nennen es Arbeit", "aber vom ökonomischen Standpunkt aus betrachtet ist die Realität der Ort, wo Menschen bereit sind, anderen Menschen für ihre Arbeitsleistung Geld zu bezahlen, und wo Transaktionen stattfinden." Wenn man für einen realen Friseurbesuch 20 Euro bezahlt, ist der Haarschnitt nach einem Monat herausgewachsen, der Wert der Dienstleistung durch das Tragen der Frisur mithin konsumiert. Wenn man für das gleiche Geld seinem Avatar einen neuen Look verpasst, kann der – und damit man selbst – ein Leben lang Freude daran haben. Das ist ein Spiel, das man mit sich selbst spielen kann. Und offenbar werden die Karten gerade neu gemischt. ()