Verriss des Monats: Zum Schießen

Bis vor wenigen Jahren war die Klötzchenwelt von Lego nur bei Fantasy-Bausätzen kriegerisch. Dank eines US-Familienbetriebs lassen sich die Minifiguren inzwischen mit hunderten detailgenauer Waffen aufrüsten.

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Von
  • Peter Glaser

Bis vor wenigen Jahren war die Klötzchenwelt von Lego nur bei Fantasy-Bausätzen kriegerisch. Dank eines US-Familienbetriebs lassen sich die Minifiguren inzwischen mit hunderten detailgenauer Waffen aufrüsten.

Die Kunst des gepflegten Verreißens zweifelhafter Produkte ist ein wenig aus der Mode gekommen. An dieser Stelle präsentiert unser Kolumnist Peter Glaser einmal im Monat deshalb eine Rezension der etwas anderen Art: den Verriss des Monats. Vorschläge für besonders zu würdigende Produkte werden gerne per Mail entgegengenommen.

Redmond im US-Bundesstaat Washington ist eine Stadt etwa von der Größe Euskirchens. Zu den namhaften Persönlichkeiten der Gemeinde gehören unter anderem die Dichterin Jeannine Hall Gailey ("The Robot Scientist's Daughter") und der zweimalige Donkey Kong-Weltrekordhalter Steven J. Wiebe. Größter Arbeitgeber vor Ort ist die Firma Microsoft mit über 42.000 Mitarbeitern, gefolgt von dem Baumaschinenkonzern Terex, und Eurest Dining Service, einem britischen Catering-Multi, der in den Microsoft-Cafes für das Essen sorgt.

Und dann ist da noch die Firma BrickArms. Das Einmann-Unternehmen wird betrieben von Will Chapman, nach eigenen Worten ein AFOL (Adult Fan Of Lego), dem im Deutschen das Akronym ELF (Erwachsener Lego-Fan) entspricht. BrickArms ist ein Familienbetrieb, Chapmans Frau und die drei Söhne packen mit an. 2006 hatte der Jüngste, damals 9 Jahre alt, für's Lego-Spielen nach Waffen aus dem 2. Weltkrieg gefragt. Daraus hat sich inzwischen ein Business entwickelt, das hunderte unterschiedlicher Waffen nebst Zubehör hervorbringt, kompatibel zu den Original-Knopfsteinen und Minifiguren "und weltweit von Sammlern hochgeschätzt."

Lego hat seine Produktlinien in den letzten Jahren ständig erweitert. So gibt es die schon etwas erwachsenere "Mindstorm"-Reihe mit programmierbaren Klötzchen-Robotern oder Meisterwerke der modernen Architektur, und es gibt "Lego Friends" für Mädchen und rosa Steineboxen. Die Noppensteine sind nicht unbedingt pazifistisches Spielzeug. "Wehre ihre Überfälle mit coolen Doppel-Waffen und Schnellfeuer-Werfern ab", heißt es im Online-Shop zu einer Serie von Fantasy-Figuren – "Lego Bionicle Sets ermöglichen Kindern ein intuitives Bauerlebnis, intensives und actionreiches Spielen mit coolen Waffen und die Möglichkeit, die Welt vor dem Bösen zu retten!" Auch das Star Wars-Merchandising verheißt "aufregende Action im Todesstern" ("Achtung, Erstickungsgefahr! Kleine Teile!"). Das mondgroße Monsterraumschiff der Jungs von der bösen Seite der Macht ist mit 419,99 Euro im übrigen nicht gerade auf Taschengeldniveau.

Aber die dänische Firma ist nie so weit gegangen, ihre Minifiguren mit realer moderner Mordgerätschaft auszustatten. Hier tritt BrickArms auf den Plan. Mit erstaunlicher Akkuratesse wird militärisches Equipment aus kriegsgesättigten Zeiten bis hin zur Gegenwart en miniature nachgefertigt, von der deutschen Offiziersmütze über die Schnellfeuerkanone bis zur 8,8-cm-Flak und einer schier uferlosen Auswahl an Handfeuerwaffen und Maschinengewehren, die man den bisher waffenlosen Minifiguren paßgenau in die Hand drücken kann.

Nun könnte man erwachsenen Legoisten eine Art ernsthaftes historisches Interesse unterstellen, dem sie mit aufgerüstetem Lego nachgehen. Tatsächlich gibt es auch antikes Hieb- und Stichgerät wie ein römisches Pilum oder mittelalterliche Hellebarden und Schwerter. Aber genauso wie man Chapmans Neunjährigem die geschichtswissenschaftlichen Ambitionen nicht abnimmt, klingt umgekehrt auf der Website des deutschen Vertriebspartners Brickizimi Toys an, dass nicht nur "tausende erwachsener Lego-Baumeister täglich" mit BrickArms-Produkten umgehen, sondern auch Nichterwachsene damit "neue Wege zum Spielen zu entdecken" können.

Und es sind auch nicht nur Ausrüstungsgegenstände, aus denen man sich Lego-Männchen für strategische Sandkastenspiele zusammenstecken kann. Es ist zu einer gefährlichen Niedlichkeit geschrumpftes Gewalttätigkeitsmaterial aller Art, sei es ein Dolch, der ausdrücklich der Mördersekte der Assassinen zugeschrieben wird; der Teil einer Rüstung, die nicht einfach eine Rüstung ist, sondern Brute Armor; ein Schlagstock; ein Schlagring; oder eine Zeitbombe mit Dynamitstangen und Wecker-Zünder, aus der sich mit ein bißchen Geschick und einem der diversen Waffengürtel sicher auch ein passabler kleiner Sprengstoffgürtel basteln läßt. Man kann auch einen bis hin zur Helmkamera komplett ausgerüsteten modernen Soldaten erwerben, Micro-Uzis wie auch Bazookas.

Es ist absolut keine gute Idee, schon Kinder durch die miniaturisierten Wäfflein an scheinbar harmlose Spielzeuggerätschaft zu gewöhnen und es ihnen ganz natürlich erscheinen zu lassen, dass man damit umgeht. Seit Jahren häufen sich in den USA tragische Unglücke mit Waffen in Kinderhand. Ein zwei Jahre altes Kleinkind erschießt beim Spielen mit einer Pistole seinen Großvater. Beim jährlichen Kürbisschießen eines Schützenvereins schießt sich ein Achtjähriger versehentlich mit einer Maschinenpistole in den Kopf und stirbt. Ein Vierjähriger tötet einen zwei Jahre älteren Spielkameraden mit einem Gewehrschuss. Ein ebenfalls vierjähriger Junge greift sich eine geladene Pistole und trifft die Ehefrau eines Manns, der gerade seine Waffenkollektion vorführt. Und das Zugreifen auf Waffen wird schon mit den Spielzeugversionen zur Selbstverständlichkeit, die ohne zu Zögern ausgeführt wird.

Etwa 3.000 Kinder und Jugendliche werden pro Jahr in den USA erschossen, statistisch sind das sieben Kinder pro Tag. Schusswaffen sind die zweithäufigste Todesursache bei unter 17-jährigen. Meist kommen die Schüsse aus den Waffen der Eltern. Im Oktober 2014 startete die Brady Campaign to Prevent Gun Violence die Aktion ASK ("Asking Saves Kids"): Eltern sollten zumindest nachfragen, ob ungesicherte Waffen im Haus sind, wenn ihre Kinder bei Freunden eingeladen werden. Schon das könne Leben retten. Der im August 2014 verstorbene James S. Brady war Pressesprecher von US-Präsident Reagan, er war 1981 bei dem Attentat auf den Präsidenten schwer verletzt worden und war von da an auf den Rollstuhl angewiesen. Seine Frau und er engagierten sich für eine Verschärfung des amerikanischen Waffenrechts, was unter anderem zu dem nach ihm benannten Brady Handgun Violence Prevention Act führte.

Auf einer Karte haben Moms Demand Action for Gun Sense in America einen interaktiven #NotAnAccident Index erstellt, auf dem alle öffentlich genannten Unfälle mit Schusswaffen dokumentiert sind, bei denen Kinder und Jugendliche jemanden – oder sich selbst – mit einer Schusswaffe verletzt oder getötet haben. Im Jahr 2015 waren es bisher 222.

Was den Minirüstungsgiganten BrickArms und Lego betrifft, ist die Lage geradezu realistisch. Denn ganz wie für amerikanische Soldaten, die ihren Dienst für die Nation geleistet haben, gibt es auch in der Lego-Welt kein Hospital oder Sanatorium, in dem ihnen geholfen werden könnte, ihr Trauma aufzuarbeiten. ()