Glassholes: Wovon die Mixed-Reality-Angst in Wirklichkeit ablenkt

Zehn Jahre nach der Google Glass wärmt das Netz die Angst vor Glassholes wieder auf. Dabei ist die Technik gar nicht das Problem, findet Malte Kirchner.

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Mann, der VR-Brille trägt

(Bild: Halfpoint / Shutterstock.com)

Lesezeit: 4 Min.
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Die Glassholes sind wieder da! Der Hang zum Retro-Trend kennt offenbar keine Grenzen und so wird nun auch die Panik aufgewärmt, die vor einem Jahrzehnt entstand, als die Google Glass in der Öffentlichkeit auftauchte. Zwar kursierte die Brille nur in homöopathischen Dosen – schließlich handelte es sich um eine limitierte Entwicklerversion. Für eine globale Aufregung und sogar Verbote reichte die Sorge davor, heimlich gefilmt zu werden, aber allemal. Am Ende war es vielleicht weniger die noch zu frühe Technik als der gewaltige Imageschaden, der dafür sorgte, dass Google vorerst die Finger davon ließ.

Ein Kommentar von Malte Kirchner

Malte Kirchner ist seit 2022 Redakteur bei heise online. Neben der Technik selbst beschäftigt ihn die Frage, wie diese die Gesellschaft verändert. Sein besonderes Augenmerk gilt Neuigkeiten aus dem Hause Apple. Daneben befasst er sich mit Entwicklung und Podcasten.

Überraschend ist an der aktuellen Diskussion, dass ausgerechnet die Meta Quest 3 dafür herhalten muss, die Hysterie neu zu beleben. Das Headset lädt optisch und vom Softwareangebot nun wirklich nicht dazu ein, draußen getragen zu werden, auch wenn dies natürlich technisch möglich ist. Es drängt sich aber ein unschöner Verdacht auf, dass nun selbst die Technikwelt etwas ergriffen hat, was bislang eher in der analogen Welt in Teilen der Bevölkerung zu beobachten ist: Fortschrittsfeindlichkeit.

Das US-Techportal The Verge bemüht einige Social-Media-Clips, in denen Menschen allen Ernstes mit dem vergleichsweise klobigen Gerät auf dem Kopf in ein Café oder einen Aufzug laufen und im Mixed-Reality-Modus einen Film gucken. Und ja, um der Welt zu zeigen, dass sie das können, filmen sie das Ganze und stellen die Videos ins Netz. Zu sehen ist auch eine offenbar nichts ahnende oder den Blödsinn einfach ignorierende Mitarbeiterin des Cafés. Und wer sich bislang fragte, warum Apple seinen ersten räumlichen Computer, die Vision Pro, nie im Außeneinsatz abgebildet hat, dürfte jetzt eine Antwort darauf haben: Offenbar um die späteren Nutzer gar nicht erst auf Ideen zu bringen.

Ist das aber deshalb gleich ein generelles Technikproblem oder einfach nur ein Fall von schlechtem Benehmen? Ist das Auto schuld, wenn der Fahrer andere Verkehrsteilnehmer bedrängt? Und hätte ein Medium oder eine größere Zahl von Menschen Anstoß genommen, wenn anstelle der Mixed-Reality-Brille ein Smartphone mit 4K-Video gestanden hätte?

Die Antwort ist: Ganz sicher nicht. Denn wer Social Media oder YouTube durchscrollt, sieht jeden Tag Menschen, die in der Öffentlichkeit aufgenommen wurden, ohne dass sie anscheinend jemand gefragt oder gar um schriftliches Einverständnis gebeten hat. In einer Zeit, in der alles Mögliche öffentlich dokumentiert wird, ist das zur Selbstverständlichkeit geworden – und das kann gleichermaßen als positive wie auch als negative Entwicklung angesehen werden. Die Grenzziehung, wie sehr man selbst zur Öffentlichkeit wird und wie viel Privatsphäre einem zusteht, ist schwierig geworden in Zeiten, in denen jeder ständig "auf Sendung" gehen kann.

Vor zehn Jahren, als die Google Glass ein Thema war, sah die Welt noch anders aus. Und nein, man muss die Arglosigkeit vieler Zeitgenossen deshalb nicht gut finden – aber genauso wie heute kaum noch ein Hahn danach kräht, dass mit Google und Apple gleich zwei Dienste Straßenfotografien anbieten, war das vor über einem Jahrzehnt im ersten Anlauf von Google Street View gefühlt noch der Untergang des Abendlandes. Von den seinerzeit beschworenen Schreckensszenarien ist kein einziges eingetreten.

Fortschrittsfeindlichkeit hat viele Gesichter: Sie richtet sich verschiedene Formen erneuerbarer Energie, etwa gegen Photovoltaik-Anlagen, die das Aussehen von Hausdächern verändern, und nun eben gegen Mixed-Reality-Geräte, die Menschen in eine virtuelle Parallelwelt versetzen. Sie schaffen, so offenbar die Sorge, die aus der Glassholes-Debatte herausspricht, eine neue Barriere im Zwischenmenschlichen oder gar eine Entmenschlichung. Eine Barriere, die aber heute schon das allgegenwärtige und immer ablenkende Smartphone hochgezogen hat.

Am Ende ist gar nicht die Technik der Stein des Anstoßes, sondern die Frage, wie wir Menschen miteinander zusammenleben und umgehen wollen. Wie sehr wir uns von Technik und Trends leiten lassen und inwieweit wir selbst am Steuer bleiben. Die Technik hat vieles verbessert, aber in Bezug auf diesen Punkt nichts einfacher gemacht. Glassholes aber gab es auch schon ohne Glass.

(mki)