Kommentar: Das Internet, ChatGPT und die Bibliothek von Babel

KIs schreiben passable Texte, verbreiten aber auch Unwahrheiten. Der technische Stand lässt noch mehr zu: Die unendliche Kombination – und wir müssen sortieren.

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Digitales Lernen

(Bild: VGstockstudio/Shutterstock.com)

Lesezeit: 4 Min.

Jorge Luis Borges’ Literatur verweist in das Unendliche, (un)Wahrscheinliche, Zirkuläre und Monströse. In der "Bibliothek von Babel", einer Erzählung des argentinischen Schriftstellers, gibt es jedes mögliche Buch, durch die unendliche Kombination der vorhandenen Textzeichen. So stehen in der Bibliothek von Babel Bücher, die wir bereits kennen, die, welche eigentlich noch geschrieben werden müssten und dazu sehr viel Unverständliches – Buchstabensalat, Informationsmüll und das in unendlichen Variationen.

Lese ich davon, dass nun Menschen mit der Hilfe von ChatGPT in Windeseile Bücher verfassen und über Amazon vertreiben, muss ich sofort an die "Bibliothek von Babel" denken. Auch, wenn ChatGPT offenbar mühelos Texte umschreibt und vervollständigt, drängt sich mir die Erinnerung an diese Erzählung auf.

Denn: Das Internet scheint mittlerweile wirklich grenzenlos und unendlich füllbar zu sein – Speicherprobleme werden kleiner. Damit kann das Internet auch Regalwand für sämtliche Bücher werden, die bereits geschrieben wurden, die gerade mit ChatGPT verfasst werden und jene, die später mit ausreichend Rechenkapazität einfach aus der unendlichen Kombination der Buchstaben generiert werden.

Man stelle sich vor: Wir bekommen nicht nur unendlich viel Informationsmüll von Künstlichen Intelligenzen und Kombinationsmaschinen mit enormer Rechenpower vorgesetzt, sondern im Hintergrund werden – ganz ohne menschliches Zutun – großartige Bücher geschrieben, nur von Maschinen.

Wie auch die Menschen in der Bibliothek von Babel in Borges Geschichte stünden wir damit aber einer schwierigen Aufgabe gegenüber: Wie finden wir die Schätze zwischen den ganzen Buchstabensalaten und Falschinformationen? Kann auch das (irgendwann) eine KI leisten?

"Auf eine vernünftige Zeile oder korrekte Notiz entfallen Meilen sinnloser Kakophonien, sprachlichen Plunders, zusammenhangloses Zeugs." Jorge Luis Borges, Die Bibliothek von Babel.

Wenn es unendlich viele Bücher gäbe, würde es auch irgendwo dieses eine Buch geben, das uns nun helfen könnte: Nämlich das, welches uns genau erklärt, wie wir nun mit der heutigen Informations- und Textfülle umgehen sollen. Denn die vielen aktuellen Texte zu ChatGPT zeigen ja eines: So richtig wohl ist uns bei dieser Technik nicht. Mit den Folgen ihrer Entwicklung hadern wir schon jetzt.

"Die guten [Linsen] ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen", heißt es im Märchen von Aschenputtel – in unseren Zeiten müsste es heißen: "Die guten Texte ins Köpfchen, die schlechten ins Kröpfchen."

Unser Sortierorgan Gehirn wird künftig wohl mit immer mehr maschinell erstellten Texten konfrontiert. So erscheint es mir richtig, dass der Didacta-Verband unterstreicht, Kinder und Jugendliche sollten nicht nur digitale Kompetenzen in Bildungseinrichtungen erwerben, sondern dort auch ChatGPT und andere KIs verstehen lernen.

Allerdings müsste dies aus meiner Sicht auch allen älteren Bevölkerungsgruppen nähergebracht werden. Denn der kritische Umgang mit Texten ist noch einmal drängender geworden. Angesichts der jetzt schon unübersichtlichen Flut an Informationen im Internet und dem unbedachten Weiterleiten von Falschnachrichten fehlt es ohnehin schon an Medienkompetenz. Wer nämlich nicht versteht, dass die großen Buchstabenkombinatoren auch Buchstaben zu falschen Informationen kombinieren können, wird auch nicht erkennen können, dass irgendwann Maschinen und "schlaue" Anwendungen bestimmen, was wir wissen werden, auch wenn es reichlich Unsinniges ist.

"Die Ruchlosen behaupten, in der Bibliothek sei die Sinnlosigkeit normal und das Vernünftige (selbst das schlecht und recht Zusammenhängende) eine fast wundersame Ausnahme", Jorge Luis Borges, Die Bibliothek von Babel, Fiktionen, Fischer Taschenbuch Verlag, achte Auflage, März 2003.

Ein Kommentar von Kristina Beer

Kristina Beer schreibt und moderiert für heise online. Sie beschäftigt sich gerne mit der Frage, wie sich technischer Fortschritt auf Gesellschaft, Wirtschaft und politische Entscheidungen auswirkt.

(kbe)