Kommentar: Industrie 4.0 – Weg mit den Jobs, her mit den Moneten

Öde Tätigkeiten sollten automatisiert werden. Wohlstand aus technischen Umwälzungen muss dabei bei allen Menschen ankommen, findet Philipp Steevens.

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(Bild: beeboys/Shutterstock.com)

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Fragt man sich bei einer Aufgabe, warum sie heute noch ein Mensch erledigen muss, so sollte sie automatisiert werden. Zuletzt rührte auch die Hannover Messe mit den Schlagworten Digitalisierung und Nachhaltigkeit mächtig die Trommel für die Industrie 4.0. Auch der Bitkom beschäftigte sich anlässlich der Messe mit dem Thema und schloss: "In der Industrie 4.0 ist Platz für Beschäftigte jeden Bildungsgrades." Das beruhigt. Aber wo genau bleiben die Menschen in der Industrie 4.0?

Ein Kommentar von Philipp Steevens

Philipp Steevens ist iX-Redakteur und betreut vornehmlich Artikel aus dem Bereich Data Science und KI. Bei seinem privaten Umgang mit Technik würde er sich als für Datenschutz sensibilisiert beschreiben, Freunde nennen ihn Paranoid.

Für das Automatisieren sind mehrere Szenarien denkbar: Roboter oder Programme übernehmen repetitive Routinejobs in Fabriken und Ämtern und Techniker überwachen sie. Oder die Roboter übernehmen Jobs, sind aber simpel genug, dass jede und jeder sie überwachen kann. Zuletzt ist auch möglich, dass Menschen die hirntoten Tätigkeiten weiter machen, aber Roboter anstelle von mittleren Managern das Überwachen übernehmen. Klingt alles erst mal gut bis gruselig. Weniger Menschen arbeiten, alle sind noch produktiver und die Wirtschaft kann endlich weiter wachsen. Fraglich bleibt nur, ob noch genug Geld zum fröhlichen Konsumieren bei den jetzt nicht mehr Arbeitenden ankommt. Und ob die ungelernten Überwacher überhaupt mehr als Mindestlohn bekommen.

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Egal, ob wir zum Überwachen der vollautomatischen Produktion nur noch hoch spezialisierte Fachidioten oder dressierte Affen brauchen: Die Automatisierung muss der gesamten Menschheit dienen und nicht nur den Besitzern der Produktionsmittel. Wie sich gerade beim Tankrabatt zeigt, ist aber auf die Gutherzigkeit von Firmen überraschenderweise kein Verlass. Es besteht politischer Handlungsbedarf.

Übernehmen bald KI und Roboter die meisten Arbeiten produktiver als der Otto Normalmensch, dann muss der technisch generierte Wohlstand trotzdem irgendwie verteilt werden. Denn wegbrechende Konsumenten schaden auch den Produktionsmittelbesitzern. Wichtiger ist aber noch die menschliche Ebene von Industrie 4.0. Sind die hirnlosen Jobs erst mal wegrationalisiert, bleibt den Menschen Zeit für erfüllende Tätigkeiten. Statt 50 Jahre am Fließband zu stehen, müssen Weiterbildungs- und Umschulungsmöglichkeiten besser und Normalität werden.

Dafür müssen Arbeit und Arbeitsprozesse umgestaltet werden, wie auch Ökonom Erik Brynjolfsson gerade erst im Interview anmerkt. Die Vorstellung, dass alle Menschen aus wegfallenden Berufen dann aber die Lücken im Bildungs- und Gesundheitswesen füllen können, ist dabei absurd. Genauso wie die Annahme, dass Neu-Arbeitslose dann auf Social-Media-Plattformen ins Fitness- oder Lifestyle-Influencer-Business einsteigen könnten. Um mehr Leute für die Pflege anzulocken, müssten dort vor allem an Arbeitsbedingungen und Gehältern geschraubt werden. Das YouTube- und Insta-Game finanziert sich entweder aus einer absurden Werbespirale oder aber aus den freiwilligen Spenden und Trinkgeldern der Follower. Gerade letzteres geht aber nicht, wenn es den Spendern schlecht geht.

Nachhaltigkeit in Digitalisierung und Automatisierung nützt den Menschen nur, wenn alle etwas davon haben. Dauerbaustellen, wie das Bildungswesen oder Hardware-Probleme im Gesundheitswesen und das E-Rezept an sich, müssen im Zuge dessen auch gelöst werden. Es darf nicht nur in KI und Roboter investiert werden, sondern insbesondere in Menschen und Gesellschaft. Auch von den Fabrikbesitzern.

Bei diesem Kommentar handelt es sich um das Editorial der iX 7/2022, die am 23. Juli erscheint.

(pst)