Kommentar: Luftgrenzwerte sind keine Anleitungen für vorausschauende Politik

Hannover erwägt, die Umweltzone aufzuheben, da die aktuellen Grenzwerte erreicht werden. Das ist kurzsichtig, denn schärfere Grenzwerte zeichnen sich schon ab.

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Auspuff

Auspuff an einem BMW.

(Bild: heise online / anw)

Lesezeit: 3 Min.

Sich immer nur an Grenzwerten entlangzuhangeln, ist nicht pragmatisch, sondern kurzsichtig. Diese Erkenntnis könnte der Stadt Hannover bevorstehen: Sie erwägt, ihre Umweltzone aufzuheben, weil die Stickoxidwerte mittlerweile unter den Grenzwerten liegen. Doch dies könnte sich bald wieder ändern – und zwar nicht, weil ohne Umweltzone massenhaft alte Diesel zurück in die Stadt drängen. Das ist zwar nicht auszuschließen, aber eher unwahrscheinlich.

Deutlich absehbar ist hingegen, dass die Grenzwerte schärfer werden. Die EU-Kommission hat kürzlich Werte vorgeschlagen, die nur noch halb so hoch sind wie bisher (siehe Tabelle). Das geschieht keineswegs willkürlich, sondern bleibt sogar noch hinter den jüngsten Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation WHO zurück, die auf neuen Studien beruhen.

µg/m3 EU bisher EU 2030 WHO 2005 WHO 2021
NO2 40 20 40 10
PM10 40 20 20 15
PM2,5 25 10 10 5

(PM10 = Feinstaub mit einem maximalen Partikeldurchmesser von 10 Mikrometern;
PM2,5 = Feinstaub mit einem maximalen Partikeldurchmesser von 2,5 Mikrometern)

"Konnten bisher praktisch alle deutschen Städte ausreichend saubere Luft melden, würden künftig 99 Prozent durchfallen", schreibt der Spiegel dazu. Zwar ist offen, was von den Kommissionsvorschlägen noch übrig bleibt, wenn sie die europäische Gesetzgebungsmühle durchlaufen haben. Aber klar ist: Grenzwerte sind ein bewegliches Ziel und taugen nicht als Leitplanken für eine vorausschauende Politik. Denn erstens kommen laufend neue wissenschaftliche Erkenntnisse ans Licht, zweitens sind die Grenzwerte Teil eines unberechenbaren politischen Aushandlungsprozess, und drittens bedeuten sie nicht, dass alle Emissionen unterhalb der jeweils gültigen Schwelle harmlos wären.

Ein Kommentar von Gregor Honsel

Gregor Honsel ist seit 2006 TR-Redakteur. Er glaubt, dass viele komplexe Probleme einfache, leichtverständliche, aber falsche Lösungen haben.

Darauf, dass eine verbesserte Autotechnik die strengeren Grenzwerte kompensieren wird, sollten sich die Städte besser nicht verlassen. Gerade erst hat die EU nämlich abgelehnt, die kommende Euro-7-Norm deutlich zu verschärfen – mit dem Argument, dass ab 2035 ohnehin nur noch E-Autos neu zugelassen werden. Da sei es den Autobauern nicht zumutbar, zusätzlich noch viel Geld in die Aufrüstung der Verbrenner zu stecken.

Auch das ist kurzsichtig: Gerade schwere und drehmomentstarke E-Autos erzeugen durch den Reifenabrieb mitunter noch mehr Feinstaub als Verbrenner – so zumindest besagt es eine OECD-Studie. Früher oder später werden deshalb wohl auch Grenzwerte für Emissionen kommen, die nicht aus dem Auspuff stammen. Doch vermutlich eher später, denn technisch ist es zwar möglich, den Feinstaub von Reifen und Bremsen aufzufangen, doch das ziemlich aufwendig, wie Prototypen des "umweltfreundlichsten Autos" vom DLR und bei den Streestscootern der Deutschen Post zeigen.

Daraus folgt: Auf die Städte kommt offenbar ein doppeltes Problem zu – einmal durch erhöhte Feinstaub-Emissionen durch Elektro-SUVs, einmal durch verschärfte EU-Grenzwerte für Feinstaub und Stickoxide. Ob und wieweit Umweltzonen dagegen helfen, muss sich zeigen. Aber es ist auf jeden Fall ziemlich mutig, ein etabliertes Instrument aus der Hand zu geben, nur weil man die aktuellen Anforderungen mit Ach und Krach schafft. Auf die Dauer hilft ohnehin nur: weniger Autoverkehr!

(grh)