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Was war. Was wird. 2023: Nichts ist so, wie es scheint

Völlig überraschend hat 2023 begonnen. Hal Faber ergründet die Tiefen der Zahl 23. Und warum der Mensch nach höherem Geist strebt, aber öfter als Affe agiert.

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Die ganz Welt in einem Buch. Im "Kapital" von Karl Max etwa (hier wohl nicht abgebildet), das er in England geschrieben hat. Glückliches Britannien!

(Bild: Dilyana Design/Shutterstock.com)

Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

*** Bella gerant alii, tu felix Britannia scribe. Was wären wir ohne die Bücher, die in Britannien geschrieben wurden? Man denke nur an Das Kapital des Emigranten Karl Marx, ein Aufklärungsbuch, das heute zum Weltdokumentenerbe der UNESCO gehört. Jedenfalls der erste Band, denn nur wenige schaffen es, alle drei zu lesen. Was wären wir ohne Spare, die Memoiren des Reservekönigs Prinz Harry, Herzog von Sus und Sex. Die spanische Übersetzung gelangte vorschnell in den Handel und jetzt weiß alle Welt vorab, wo der Prinz das erste Mal Sex hatte. Leider hat das Adelsfachblatt aus Frankfurt seine Anmerkung hinter eine Eurowand gestellt, also muss ein Zitat her, das zeigt, wie zwei Welten aufeinanderprallen: "die durchtherapierte, alles offen legende kalifornische Lebenskultur, die sich der Herzog und die Herzogin von Sussex zu eigen gemacht haben, und die Rigidität der Krone, mithin einer Institution, die sich der alten britischen Schule der steifen Oberlippe verpflichtet fühlt". Das ist einfühlsam geschrieben und gibt Anlass zur Hoffnung, dass weitere Bücher über das Königsdrama folgen werden. Shakespeare ist tot, aber das Leben geht weiter.

*** Glückliches Britannien, was wären wir ohne das Buch Über die Entstehung der Arten, das Charles Darwin verfasste. Es erklärte die Evolutionstheorie, zu der gehört, dass wir alle, auch Prinz Harry und Prinz Andrew, von Affen abstammen und uns gelegentlich auch so benehmen. Der große Naturforscher begründete auch den Darwinismus mit der These vom Überleben der Fittesten in der ehemaligen Wildnis. Am Sonntag könnte man freilich der Frage nachgehen, warum es keinen Wallace-ismus gab: vor 200 Jahren wurde Darwins Kollege, Freund und Konkurrent Alfred Russel Wallace geboren. Sein Ternate-Manuskript gilt als wichtiger Anstoß für Darwin und Wallace, die Gedanken zur Evolutionstheorie zu veröffentlichen. Der Entdecker der Wallacea beschäftigte sich mit der biogeografischen Evolution von Naturräumen und formulierte das Sarawak-Gesetz: "Jede Spezies entwickelte sich in Koinzidenz mit dem raum und der zeit aus einer vorhergehenden, eng verwandten Spezies." Im Unterschied zu Darwin achtete Wallace immer auf den biogeografischen und umfeldbedingten Druck, der zur Evolution der Arten führt, und dachte an eine Art Rückkoppelungsmechanismus, der Veränderungen bewirkt. Sein Pech war es, dass er später spiritistische Anwandlungen hatte und in der Evolution drei Mal ein höherer Geist in die Entwicklung des Universums eingegriffen habe. Das erste Mal bei der Entstehung von Leben aus anorganischer Materie, das zweite Mal bei der Entwicklung von Bewusstsein in höheren Tierarten und das dritte Mal bei der Entwicklung des menschlichen Geistes. Da konnte ihm Darwin nicht mehr folgen.

*** Ob man dem Gedanken des britischen Möbelrestaurators Paul Bacon folgen kann? Er vertritt die These, dass die Höhlenmalereien der Eiszeit eine Art rudimentäre Schrift der Frühmenschen enthalten, mit der sie Informationen weitergaben, wann welche Tiere am besteh zu jagen sind. Ein auffallend häufig vorkommendes Y soll für die Geburtssaison bestimmter Tierarten stehen und Punkte sollen die Paarungszeit der Tiere gemessen an den Mondphasen darstellen. Wissenschaftler der Durham University unterstützten Bacon bei der Analyse. Es könnte sein, dass wir näher an den Eiszeitmenschen dran sind, als wir glauben, wie dies auch schon mit den Neandertal-Genen in unserem Erbgut festgestellt wurde. Das Meme vom Menschen als Krone der Schöpfung hat ja schon länger ausgedient. Das Wissen, wie man Hubschrauber baut, zeigt den Erfindungsreichtum des Menschen. Der erfolglose Versuch, mit Hubschraubern den Schneemangel in einem Skigebiet zu bekämpfen, zeigt den alten Affen, der den Klimawandel nicht versteht.

*** Zum Verständnis der Silvesterkrawalle ist in dieser Woche viel geschrieben worden, zu den idiotischen Vorschlägen von "harten Strafen" und der "Länge der Staatsbürgerschaft" im nächsten neuen Personalausweis auch. So bleibt es dieser kleinen Wochenschau nur übrig, auf die klugen Stellungnahmen hinzuweisen, die sonst im Getöse untergehen. Etwa die einer Stadtsoziologin, die keineswegs davon überrascht ist, wie es geknallt hat: "Die Integrationsfrage ist nicht: Warum gelingt es nicht, dass Menschen mit Migrationshintergrund Teil der Gesellschaft werden. Die Frage ist: Warum ist unsere Gesellschaft so geschlossen?" Oder da wäre der Inhaber eines Lehrstuhls für "Erziehung und Bildung in der Migrationsgesellschaft", leider hinter einer Paywall: "Man ist benachteiligt, die Mädchen emanzipieren sich und die Jungs verstärken für sich unter anderem eine alte Rolle von Männlichkeit. Und dabei kann es durchaus passieren, dass man eine Art Spaß am 'Widerstand' entwickelt. Diese jungen Männer sollen die soziale Ordnung stören, von der sie in ihrer Wahrnehmung ohnehin nie profitiert haben." Schließlich noch jemand vom Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung: "Ich würde raten, alle beteiligten Gruppen in den Blick zu nehmen, durchaus auch Touristen. Gewaltakteure sind dann besonders motiviert, wenn sie Aufmerksamkeit bekommen. Dann spielen Alkohol und andere Drogen natürlich eine Rolle. Oft hat die Gewalt bei solchen Ausbrüchen kein klares Ziel, Leute ziehen durch die Gegend und machen Stress. Diese Gewalt wird, wie Jan-Philipp Reemtsma mal gesagt hat, als Erlebnis, als pure Emotion erlebt. Aber Silvester gab es eben auch bei einigen Gruppen das klare Ziel: Die staatliche Ordnung wurde zurückgedrängt, Gruppen markieren einen Raum als ihren. Das steckt dann andere Gruppen an, die meinen, diese Gewalt wäre angesagt und sei ein Erlebnis.

War sonst noch was? Wie wäre es mit einer knalligen Ansprache zu Silvester? Die Profis unter den Medienkritikern fanden harte Worte zum Knallbonbon aus dem Bendlerblock: "In ihrem Neujahresvideo wirkt die Chefin aller Soldaten so ernstzunehmend wie Ernie aus der Sesamstraße." So ein Urteil hat Ernie einfach nicht verdient, schließlich ist er schon vom Namen her der ernstzunehmendeste Ernie aller Ernies. Vor Kurzem zeigte Ernie zudem, wie die Sesamstraße diverser werden kann. Wenige Stunden nach der Freigabe dieser kleinen Wochenschau beginnen Klock 7:20 die Feierlichkeiten zum 50. Geburtstag der Sendung mit einer Spezialausgabe der "Tagesthemen" und mit dem Kommentator Krümelmonster über das Leben und Wesen der Kekse. Sogar ein Konzert in der Elbphilharmonie soll es geben, mit allen Liedern aus der Sesamstraße. Ja, wer damals anno 1973 wie ich in der Oberstufe herumhing, versäumte keine Folge der Sesamsträße, die für uns einfach eine Fortsetzung der NDR-Serie "Sympathy for the Devil" war, eben eine großartige Rocksendung. Wer weiß, vielleicht besucht Christine Lambrecht im Zuge der Feierlichkeiten die Sesamstraße und erklärt den Kindern, warum der "Gepard" kein Panzer ist, sondern ein Indieluftschießroller. Und der nun diskutierte "Marder" ist dann so ein Tannenbaumentsorgungstransporter für alle neugierigen Kinder, die fragen, was mit dem vielen Grünzeug am Straßenrand passiert.

So bleibt zum Schluss nur noch die völlig überraschende Feststellung, dass 2023 angefangen hat. Da muss ich glatt der tageszeitung zustimmen, die davon schwärmt, dass 23 eine ganz besonders schöne Zahl ist. Natürlich erinnert sie an den Hacker Karl Koch, der an einem 23. Mai im Alter von 23 Jahren gestorben ist. Sein Leben wurde verfilmt. Und sein Film mit dem Titel „23“ hatte am 14. Januar 1999 Premiere, was heute – wenn Sie diesen Text am Samstag, 7.1. lesen würden – genau 8.759 Tage her ist. Das erscheint Ihnen banal? Aber 8.759 ist genau 2.023+2.023+2.023+2.023 +20×23+(2+0+2+3)×23+23+23. Noch Fragen?" Natürlich gibt es solche. Man denke nur an die fast schon wieder vergessenen Reichsbürger, die es als Omen sehen, dass die Kuppel über dem Reichstagsgebäude 23 Meter hoch ist und das Grundgesetz an einem 23. (Mai 1949) in Kraft trat, während die heutige Gesamtrepublik am 23. (Mai 1999) aus der Taufe gehoben wurde. Aber keine Bange. Die wahre Bedeutung der 23 wird an dieser Stelle noch im Jahr 2023 geklärt.

(bme)