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Was war. Was wird.

Vorbilder, Vorbilder: Was sind heute noch Vorbilder? Die Herren und Damen der New Economy sehen sich als solche, haben aber erste Kratzer abbekommen. Und die alten Idole sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren, meint Hal Faber.

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Lesezeit: 12 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

Was war.

*** Tschüss Wembley. Wenn diese Kolumne online geht, ist der letzte Pfiff im Londoner Fußballstadion verklungen. Leer wird es auf seinen Abriss warten, so leer, wie es uns immer in Erstaunen setzte. Für Computerjournalisten war Wembley ein seltsamer Ort – und die Leidenschaft, mit der englische Computerfirmen hier ihre Pressekonferenzen abhielten, sie war nur schwer verständlich. Da saß man dann, hoch über dem Rasen in einer dieser ungelüfteten stickigen VIP-Kabinen über fettigen kalten panierten Hühnerbeinen und Labberkaffee und wartete auf sein VIP-Interview, während weit unten Arbeiter den Rasen mit wirklich seltsamen Geräten bearbeiteten. Bei meinem letzten Besuch, Lucent Technologies trennte sich gerade von seiner Telefonsparte, standen viele Kameras im Stadion herum. Eine Miss England (oder Miss Universum? Miss London-Nord?) sollte Bälle in ein leeres Tor treten. Fünf Mal traf sie daneben, dann knickte der Fuß um und sie humpelte zum wartenden Hubschrauber zurück. Alle schauten zu, und Lucent dementierte jegliche Symbolik. Tschüss Wembley, alles geht vorbei. "Rom fiel. Napoleon wurde in Waterloo geschlagen. Knight Rider wurde vom Fernsehschirm verbannt. Dinge enden. Unglücklicherweise ist die Zeit für uns gekommen." Tschüss Freesholarships.com. Immerhin hat der Abschied Stil. Mögen andere Bobos sich diese Sätze zum Vorbild nehmen.

*** Vorbilder jedenfalls gibt es noch viele andere. Boo.com ist für viele die typische Ausprägung der Bobomanie gewesen. Eine Website für die reichen und stilbewussten Bobos, die von einer unsäglichen Miss Boo begrüßt wurden. Boo.com implodierte spektakulär und viel belästert – und kommt jetzt wieder, zum 30. Oktober. Eine Firma namens Fashionmall kaufte die Reste und schickte prompt Miss Boo mit einer Pressemeldung heraus: "Wir werden eine rauschende virtuelle Party aufziehen, auf der die Berühmten, Unberühmten und die Anonymen sich über Stil und den wahren Schick straflos unterhalten werden." Die Formulierung straflos ("with impunity") gibt zu denken. Sträflich ist für einen echten Bobo halt nur eine Stilfrage. Sollte es mal daneben gehen, bleibt der Griff zum Palm: Die Firma Martindale-Hubble bietet eigens für die Happy Few eine PQA-Datei an, mit der man in den USA schnell den richtigen Rechtsanwalt finden kann. Etwa, wenn auch dort einmal ein Cut & Paste so daneben gegangen ist, dass Justizia wach werden könnte. Kleiner Schönheitsfehler dürfte es freilich sein, dass die Polizei den Palm einkassiert, bevor der Rechtsanwalt gesucht werden kann. Ein letzter Blick auf die Helden der Neuen Ökonomie muss Priceline.com gelten, einem Unternehmen, das damit warb, jeden Flugticket-Preis unterbieten zu können. Nun schließt die Tochtergesellschaft WebHouse Club die Türen, die anders als Priceline Gemüse und Benzin verkaufen wollte. Eine weiterer Partner, PerfectYardSale.com, steht ebenfalls unmittelbar vor dem Exitus. In einer Diskussion behauptete Priceline-Gründer Jay Walker unlängst, dass in fünf Jahren die Reisebüros verschwunden sein werden. Wie es so aussieht, verschwindet jemand anderes vorher.

*** Manche vermeintlichen Vorbilder der Branche wirken heute wie die Idole, die wir in unserer Jugend anhimmelten: Vergessen und vergangen. Wer kennt noch T.Rex, wer spricht noch von Neil Young, wem sagen Van der Graaf Generator oder Can noch etwas? Einzig Led Zeppelin kann mit Stairway to Heaven noch als Reminiszenz an frühere Tage einen kleinen Blumentopf unter den Zeitgenossen gewinnen. Und Novell ist auch noch nicht ganz verschwunden – auch wenn Ray "Bonham" Noorda beim roten Riesen schon lange nicht mehr die Stöcke schwingt. Die Firma reichte bei der ICANN einen Vorschlag ein, nach dem an jeden Dotcom-Namen die Endung .dir angehängt werden soll. Sie steht für Directory und wäre ein Verzeichnisdienst der jeweils benamsten Firma, mithin eine Art Firmen-Explorer, adäquat zum Geo Explorer. In aller Kürze wäre heise.de.dir dann die Adresse, die jeweils richtigen Redakteure zu finden, statt ständig mit dem Faxgerät vom Hund des Pförtners zu kämpfen. Geht es nach Novell, steht .dir für Port 389 und dem entsprechenden LDAP-Dienst. Geht es nach Microsoft, so hat diese TLD keine Chancen, weil Domän-Namen viel zu dämonisch sind, da viel zu unsicher und ständig umkämpft. Als Beispiel nannte Microsofts Shanen Boettcher mehrere Domain-Namen, unter anderem Dreher wie Microsotf.com und Nowell.com.

*** Idole und ihre Fans sind also beileibe kein Phänomen des Pop mehr. Lange, bevor das erste MS-DOS uns plagte und Wintel nach der Weltherrschaft strebte, gab es den angebissen Apfel – und Steve Jobs war sein Prophet. Und das ist er heute wieder – mit in letzter Zeit wechselndem Erfolg. Immerhin aber steht bei Apple (nicht Appple) Mac OS X vor der Tür. Und das führt uns direktemang in eine Diskussion, wie wir sie alle so lieben. Ist das neue Unix-Derivat so wichtig wie das Erscheinen von Sgt. Peppers Lonely Heart Club Band? Oder ist es der Schrott, den Bands wie N'Sync für geistlose Konsumenten produzieren? Ist das System auf dem Weg, den Tuli Kupferberg and the Fugs beschritten haben oder der SNAFU von East of Eden? Vielleicht aber ist Mac OS X auch beides: Auch OS/2 galt seinen Jüngern lange als so bedeutend wie Beggar's Banquet, ist heute aber nicht mehr als ein abgestandener Slade-Song, den Unverbesserliche immer wieder einmal aus der Kiste holen.

*** Vorbilder sind aber nicht nur interessant, um sich an ihnen aufzureiben oder ihnen nachzueifern. Vorbilder sind Geld wert – glaubt jedenfalls die Industrie und sucht nach all den jungen Trendsettern, die vorgeben, was denn in den nächsten Tagen so in ist, bei Bobos, Teenies und allen anderen, die noch ihren Weg suchen. Das geht jetzt übrigens auch im Internet – nein, nicht den Weg zu suchen, sondern den geilen Trends nachzuspüren. Mit www.look-look.com geht die notorische Trendforscherin Dee Dee Gordon ins Netz. Hunderte, wenn nicht Tausende von Kids will sie darauf ansetzen, in den Metropolen der Welt mit Stift und Digital-Kamera bewaffnet die coolsten und hippsten Sachen aufzuspüren, die sich bald in allen H&M's der Welt wieder finden werden. Per E-Mail und Bildern direkt vom Ort des Geschehens merkt die Industrie eben noch schneller, wo der Hase läuft – und können sich unsere lieben Trendsetter noch schneller wieder davon distanzieren. Pech nur, falls es plötzlich cool würde, ohne E-Mail und Internet sein Leben zu fristen.

*** Im Oktober vor 600 Jahren (oder 599 Jahren, je nach dem) soll übrigens ein Mann schmählich zu Tode gekommen sein, den so manche nicht gerne als Vorbild der Jugend sehen: Klaus Störtebeker, der Likedeeler und Pirat, der die Pfeffersäcke das Fürchten lehrte und angeblich nach seiner Enthauptung mindestens 11 Kumpane vor dem Tod bewahrte, indem er ohne Kopf noch an ihnen vorbeilief, soll vor 600 Jahren den Häschern der Hanse in die Hände gefallen sein. Ob er als abschreckendes Beispiel oder Vorbild dient, mag man heute gar nicht mehr entscheiden, weiß man doch so gut wie nichts über Störtebeker, könnte er genauso gut heldenhafter Kämpfer gegen die Unterdrücker wie Beteiligter an den kriegerischen Ränkespielen der Machthaber des 15. Jahrhunderts oder brandschatzender Räuber gewesen sein, der die Küstenbewohner von Nord- und Ostsee plagte. Aber der Mythos machts – und das richtige Feindbild, und das nicht nur in der Historie. Wer hätte das gedacht: AMD als heldenhafter Che Guevara, der die Intel-Diktatoren bekämpft; Red Hat und andere Linux-Firmen proben den "unsichtbaren Aufstand" gegen die Microsoft-Imperialisten. Eben, der Mythos machts; schließlich hätte es auch umgekehrt kommen können: Die armen, unterdrückten Gates-Mannen revoltieren mit ihrem schmucken Windows gegen den multinationalen Konzern IBM, die Krake, die mit OS/2 die ganze Branche gefangen hält. Egal, ob es so oder so kam, vor unseren geliebten Verschwörungstheoretikern und Betriebssystemkriegern hätte uns das nicht bewahrt.

*** Manchmal helfen eben wohl nur die noch älteren Vorbilder und ein frommer Seufzer. Übrigens soll religiöse Betätigung sogar gesund sein: "Beten hilft und heilt". Zu diesem Ergebnis kommt Professor Dale Matthews von der Georgetown University nach Auswertung von 325 Studien, wie die Zeitschrift Für Sie in ihrer jüngsten Ausgabe berichtet. In über 75 Prozent der Untersuchungen gibt es demnach Belege dafür, dass religiöses Leben hilft, Krankheiten vorzubeugen, schneller gesund zu werden und länger zu leben. In diesem Sinne kann ich ja eigentlich nur noch einen frohen Sonntag wünschen – oder mich herausreden, dass ich solche Blätter keineswegs zum Vorbild nehme, sondern sie wie alle anderen ja eh nur beim Friseur oder Zahnarzt lese.

Was wird.

West of Hannover wird nächste Woche die Coming-Out-Party steigen, die Microsoft für Exchange 2000 schmeißt. Wer sich zu diesem Event mit einem anderen Mail-System als Outlook & Co anmelden wollte, hat Pech gehabt und bekam einen Stay Out, No Party aufgedrückt. Einen Stay Out der besonderen Art haben die Vertreter des Linux-Lagers erwischt: In Washington startet eine groß angelegte Konferenz zum Thema "Digital Divide". Zu dieser Konferenz über die digitale Kluft zwischen den Internet-Habenden und den ganz Armen ohne E-Mail lud der Veranstalter, das World Resources Institute, Redner wie Bill Gates und Carly Fiorina ein. Vertreter des Linux-Lagers wurden en bloc übergangen, da sie für die Länder der Dritten und Vierten Welt keine "nennenswerte Finanzkräfte darstellen, die etwas verändern können". William Ruckelshaus, der Cheforganisator dieser Konferenz, die, laut Agenda, Technologie in der ganzen Welt gerecht verteilen will, wusste nicht einmal, ob Linux in Asien oder Indien benutzt wird. Bei manchen Herren spaltet die digitale Kluft wohl eher die Köpfe.

Bleiben wir also lieber in Europa. Hier findet in London eine Konferenz zum Thema Streaming Media statt, die eine Protestgruppe mit dem lieblichen Namen HATE plattmachen möchte. HATE ist natürlich ein Akronym und steht für "Hypnotizer enAbles The Enemy": Auf der Konferenz stellt eine Firma namens Hypnotizer eine Software vor, die es ermöglichen soll, subliminale Nachrichten in einen RealPlayer-Stream einzufügen. Wer nicht ganz hypnotisiert und weg ist, sollte freilich bemerken, dass die Websites www.hypnotizer.net und www.hatehypnotizer.org an ein und demselben Wochenende von einer Person angemeldet wurden. Gespannt warten wir auf den massenhafte und machtvollen Protestmarsch, den HATE angekündigt hat. Scheitert die Aktion, ist Streaming Media für immer von geheimen Nachrichten durchsetzt: "Schalt das Geruckel ab. Kauf dir einen neuen Computer. Iss mehr Microsoft."

Etwas weiter weg findet in Brüssel die Konferenz der Alliance for Childhood statt, die in Europa hauptsächlich von den in der letzten Zeit in die Diskussion gekommenen Waldorf-Schulen und -Kindergärten getragen wird. In den USA hat die Alliance ein durchaus vernünftiges Papier veröffentlicht, in dem der Schwachsinn von Brute-Force-Aktionen wie "Schulen ans Netz" kritisch beleuchtet wird. In Brüssel wird unter anderem beraten, wie Computer und Betriebssysteme beschaffen sein müssen, damit die Kinder tatsächlich noch etwas lernen können und nicht stumpf auf bunte Icons klicken. Etwa 70 Stiftungen und Firmen treten als Sponsoren der Konferenz auf, darunter nur eine Computerfirma, die Software AG. Auch so kann Digital Divide aussehen. (Hal Faber) (jk)