4W

Was war. Was wird.

Manche Regierungen muss man erklären - aber auch so manche Regierungserklärung. Die Frage nach dem EDV-Leben, dem IT-Universum aber auch überhaupt Allem stellt sich so manchem, natürlich auch der Wochenschau.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 12 Kommentare lesen
Lesezeit: 12 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

Was war.

*** "Manche Regierungen muss man erklären", hat der Andy Müller-Maguhn in der letzten Woche behauptet. Das ist manchmal zu wenig: Regierungserklärungen muss man auch erklären. Was der zukünftige ICANN-Supermann in der FAZ veröffentlichte, die sonst nur Manifesten von den Cyber-Lichtgestalten David Gelernter oder Jaron Lanier im hauseigenen Online-Organ Edge über den Tupel traut, was eine richtige Regierungserklärung sein soll, schwappt jetzt munter durch die Medienlandschaft und wird verklärt, dass die Slash-Balken nur so krachen. Freuen wir uns also über die erste deutsche Cyber-Regierungserklärung, leiden wir mit, wenn Mama ein RAF-Fahndungsplakat aus dem Regierungszimmer entfernt. Und wir wundern uns, wenn der schnieke Bobo als Krawatti übersetzt wird. Was His AMM macht, ist schon von einem anderen Kaliber als das Geballere gegen die Regierungen dieser Welt, mit denen Perry Barlow seine Unabhängigkeit erklärt oder die Magna Charta des Informationszeitalters, die uns als "Cyberspace and the American Dream" gerne vorgehalten wird.

*** Aber amerikanisch ist die Sache doch. Ein Vorbild für Regierungserklärung Seiner Gnaden AMM ist 66 Jahre alt. Damals veröffentlichte der völlig unterschätzte Schriftsteller Upton Sinclair seine Erklärung "I, Governor of California And How I Ended Poverty: A True Story of the Future". Sinclair kämpfte damals für das EPIC-Programm, das ausgeschrieben "End of poverty in California" bedeutete und skizzierte in seiner Regierungserklärung, was alles zu ändern wäre in dem ärmsten US-Bundesstaat. Heute klingt die Not im Heimatstaat der Bobos ziemlich fremd, ist doch die Not an verfügbaren Domain-Namen viel dringlicher und essenzieller. Wie Sinclair oder Medea Benjamin mit ihrem eBook schreibt AMM aus der Zukunftsperspektive, in der er die Wahl zur Regierungsbildung offensichtlich hinter sich hat. Wie Sinclair und Benjamin wird Andy Müller-Maguhn nicht die Regierung führen und uns nicht in die Selbstregierung entlassen können.

*** Doch halt, es besteht kein Grund zur Sorge um Andy, the Candy: Jörg Tauss, SPD-Fachmann für Neue Medien, teilte dem Parteiblatt "Computerwoche" mit, dass AMMs Flugtätigkeit notfalls von der Bundesregierung gesponsert werde. "Es ist nicht einzusehen, dass Herr Müller-Maguhn auf eigene Kosten in die USA fliegt." Da freut sich der Fachmann und der Laie schüttelt sich. Was ist mit China? Wie kommt AMM dort hin, wo die Solidarität der ICANN gebraucht wird, wenn CNNIC, das China Internet Network Information Center, von CNN angegriffen wird. Nur mit Mühe konnten die kundigen Rechtsanwälte dieses Senders davon abgehalten werden, ihren Markenanspruchauf die TLD .cn auszudehnen, die "zu größter Irreführung anleitet".

*** Passend zur Regierungserklärung trudelte übrigens ein Fax ein, mit 50 Namen. Ha! Die erste Volkserklärung zur Regierungserklärung? Mitnichten: Es war die Liste der Personen, die am neuen Werbesport von "Ich bin drin"-Boris beteiligt waren. Dieser Propagandaminister der Regierung Müller-Maguhn wirbt mit einem Spot für AOL, in dem er von einer Party kommend die Mail-Adressen auf den Visitenkarten betrachtet. Ihm geht eine Art Licht auf, weil AOL sieben Mail-Adressen vergibt. In deutscher PR-Prosa liest sich das so: "Er sinniert einen Moment, zählt die Mitglieder seiner Familie und stellt erfreut fest: 'Ey, dann darf ich ja noch drei Mal!'" Ab morgen wird "Ich bin drin" also durch "Ich darf noch drei Mal" abgelöst – der Rest liegt in den kundigen Händen von Frau Barbara.

*** Wo schlichte Gemüter schon mit sieben Mail-Adressen zufrieden sind, wollen andere lieber eine ganze Domain für den guten Namen. Als letzte Woche die Modesite eve.com ihren Bobo-Out bekannt gab, fragte das Management des Konzeptmusikers Peter Gabriel nach dem Preis der Domain. Mit seinem interaktiven Eve-Adventure und dem ins Mainstream pendelnden Ovo ist der Mann im Internet präsent, doch nein: Die Marke Eve könne bei diesen Inhalten verwischen, Ähnlich markt es sich um den Dönerscout, weil das Wort Scout 24 Holz-Pfadfindern der neuen Ökonomie gehört. Mit stephenking.com hat der Gruselautor nicht das Problem von Peter Gabriel. Dafür schaffte er es, in der ansonsten eher unansehnlichen und müden e-Book-Ausstellung der Frankfurter Buchmesse zum Hauptthema zu werden: Macht er's oder macht er's nicht mehr? Kurzum, er macht's. Auch wenn die Download-Zahlen der ehrlichen Käufer seines Internetwerks "The Plant" bereits zwei Mal unter die 75-Prozent-Marke fielen. King hatte angedroht, dann kein weiteres Kapitel mehr ins Internet zu stellen. Nun also doch. am Montag kommt das vierte Kapitel ins Web, kostet aber 2 Dollar statt wie bisher 1 Dollar, weil es mit 54 Seiten doppelt so lang ist.

*** Aber mit Büchern ist das sowieso so eine Sache. Die eine kann ohne sie nicht leben, der andere guckt nur dumm, wenn ihm eines in die Hände fällt. Aber Abhilfe ist in Sicht: Die Buchmesse bescherte uns nicht nur den eBook Award, sondern etwas, was als Parents Award gefeiert werden dürfte. "Mein Grundschulabschluss", Untertitel "Fit für die fünfte Klasse", ist ein interaktives Spiel von Heureka Klett, das Eltern und Kindern eine Entscheidungshilfe gegen die Lehrer in die Hand geben soll, wenn der zukünftige Entwicklungsweg geplant wird. Mit den im Spiel erzielten Punkten der kleinen Genies werden Eltern zu den Lehrern und Lehrerinnen rennen, die wie üblich verkennen, welches Talent in ihrem Nachwuchs schlummert. Sie werden Dampf machen und auf eine Empfehlung für den richtigen Schulzweig drängen, weil Klein Pups so schön mit dem Gameboy zeichnen kann, dass ganze Tischdecken damit hübsch aussehen. Natürlich hat der Trainingsstress für konkurrenzbewusste Kids in Frankfurt eine "Gigamaus" gewonnen, den ersten Preis einer Zeitschrift mit dem seltsamen Titel "Eltern for family". Eine weitere Gigamaus ging nicht an das Cinderella-Projekt und die fanatasievolle Cinderella-Community, sondern ebenfalls an den besagten Heureka-Klett-Verlag, der die Kommerzialisierung von Cinderella übernommen hat. Eltern for profit wissen eben, was sich schickt.

*** Das Thema Bücher und Buchmesse verleitet mich zu einer Abschweifung, die mir die geneigten Ticker-Leser angesichts der EDV-übersteigenden Allumfassendheit dieser Kolumne verzeihen mögen – ist doch heise online eigentlich ein IT-Nachrichtendienst. Der aber schon mal über den Tellerrand zu blicken wagt, wie nicht zuletzt meine kleine Nische hier überraschten Zeitgenossen jeden Sonntag vor Augen führen mag. Wie dem nun auch sei: Diese Woche lief die zweite Verfilmung eines Krimis von Donna Leon, natürlich mit dem durch Venedig trampelnden Gutmenschen Guido Brunetti. Wer schon bei den Büchern haareraufend diese Traumvorstellung der Toskana-Fraktion über eine italienische Vorzeigefamilie bejammerte, sah sich im Fernsehen eines noch Schlimmeren belehrt. Nicht etwa, da Familie Brunetti in Venedig ansässig ist und daher der Toskana-Fraktion nicht als Vorbild dienen könnte: Nichts gegen Joachim Król, sein Brunetti ist ja auch ganz nett, aber er passt wirklich besser nach Inari als nach Venedig. Und dann auch noch die unsägliche Barbara Auer als Paola. Naja, Leon ist eine Sache für sich; wer's mag... Dabei lässt sich recht gut schmökern in italienischen Unterwelt- und Polizei-Gefilden. Wie wär's zur Abwechslung mal mit Michael Dibdins venzianischen, aber auch schon mal durch Rom oder Sizilien streifenden Aurelio Zen, Magdalen Nabbs phlegmatisch durch Florenz stolpernden Carabieneri-Maresciallo Guarnaccia oder gar Nino Filastòs detektivischem, ebenfalls florentinischem Anwalt Corrado Scalzi? Anschließend kann sich unsereiner, genüsslich an einem Glas Barolo oder Brunello schlürfend, wieder beruhigt der EDV-Branche widmen – ja, es gibt noch böse Menschen, böser als Bobos, Krawattis oder New Economy beschreiende PR-Menschen.

*** Genug der Abschweifung. Obwohl – manche Leute stehen dem Videorekorder genauso konsterniert gegenüberstehen wie einem dieser normalen PC-Ungetüme. Ich mag mir die Panik gar nicht vorstellen, erzählte ihnen jemand von all den Versprechen, die uns verfolgen und da besagen, TV und Internet seien sowieso bald eins. Die Erlösung durch das Internet naht, die Befreiung von allem Politischen, denn die Politiker verstehen schließlich nichts von unserer schönen neuen Welt. Zumindest scheint dies die einheilige Meinung zu sein, von AMM bis hin zum Internet-Spezi, der es weiter als bis zur AOL-Homepage schafft. "Am Ende stand die Abschaffung aller Politik überhaupt und ihre Rückverwandlung in Rausch, Macht, Charisma, Genialität", beschreibt Joachim C. Fest das antipolitische Ressentiment der nationalen Rechten in der Weimarer Republik. Das Wahlvolk, ob im Internet oder in der realen Republik, mag seine Ressentiments gegen die Politik pflegen – solange ein gesundes Ressentiment gegen die Antipolitik bleibt. Dessen allerdings scheint es manches Mal im Internet zu ermangeln. Weitgehend unbemerkt begreift die Politik das Internet in seinem gegenwärtigen Zustand inzwischen oft besser als mancher Nutzer: Keineswegs der rechtsfreie, apolitische Raum, in dem alles erlaubt ist. Ein ökonomisches und gewaltig politisches Gebilde haben uns Techniker, Neue Ökonomisten, Bobos und Internet-Minister da aus "unserem Internet" gebastelt, in dem solche Organisationen wie die ICANN von Regierungskomitees unter die Fuchtel genommen werden und Regeln des alltäglichen Wirtschaftssbedarfs die Datenströme durch die Kabel zaubern. Es gibt kein richtiges Leben im Falschen.

*** Was falsch im Richtigen und richtig im Falschen ist, darüber ließ sich übrigens vor einigen Tagen auch jemand aus, den Manche als Ober-Bobo hassen. Ganz falsch. Kaum ein Bobo versteht die Welt außerhalb seiner kleinen Internet-Klitsche – wenn er sie den überhaupt wahrnimmt. Blöden Blickes auf die Realität zu starren, das ist jedoch nicht Bill Gates' Fall. Erst kommt das Fressen, dann die Moral, meinte Bert Brecht; erst kommt das Fressen, dann das Internet, meint Bill Gates. Irgendwie tröstlich, dass auch ein Tycoon der New Economy zwischen Kartellrecht, Midas-Syndrom und Pinguin-Jagd einen kleinen Blick auf die Realität erhascht.

Was wird.

Demnächst lädt die Firma Courseleader englische Journalisten zu einem Internet-Seminar ein, das den Titel "Living with the RIP – a journalist's guide to surviving cyber-regulation" trägt. RIP steht für "Regulatory of Investigatory Powers" und ist nichts anderes als ein Schritt in den englischen oder europäischen Überwachungsstaat, der es erlaubt, dass Mails zwischen Journalisten und ihren Quellen abgefangen und entschlüsselt werden können. Deftige Gefängnisstrafen drohen dem, der sich weigert, seine Verschlüsselung den Behörden zu überreichen. In dieser Situation ist es sinnvoll, an eine kleine Stadt zu erinnern, die es eigentlich nicht gibt: Am 26. 10. findet in Bielefeld die Verleihung des "Big Brother Awards" statt. Dies ist nun keineswegs, wie man angesichts unserer Medienlandschaft spontan vermuten könnte, der Preis für den Couch Potato, der die RTL-Containersoap am längsten ausgehalten hat. Vielmehr wird der Award an Firmen und Organisationen verliehen, die "in besonderer Weise und nachhaltig die Privatsphäre von Menschen beeinträchtigen oder (persönliche) Daten Dritten zugänglich machen". Im Gegensatz zur schnieken durchsichtigen Gigamaus aus Plexiglas (die zur Verleihung in Frankfurt zu spät kam) ist der Award eine potthässliche Figur mit polizeitaktisch empfohlener Fußfessel, die von einer Plexiglasscheibe durchschnitten wird, auf der binär eine Passage aus Huxleys "Schöne Neue Welt" abgedruckt sein soll. Die Verleihung findet passenderweise in einem Bunker statt. (Hal Faber) (jk)