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Was war. Was wird. Von der Willkür und anderen Weihnachtsgeschichten

Technokrat oder Propagandaspezialist oder beides? Hal Faber überlegt nicht lange und lässt sich in die Zukunft schießen, um 'up to date' zu bleiben.

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(Bild: PopTika/Shutterstock.com)

Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

*** "Nicht wo Einer regiert, ist Despotie, sondern wo Einer herrscht, das heißt nach eigener Willkühr schaltet und die Uebrigen unbedingt als Instrumente zu seinem Zwecke braucht." Das schrieb Johann Gottfried Seume vor 215 Jahren in seinen Apokryphen und es ist ein schöner Satz zur Illustration des Handelns von Elon Musk. Willkürlich sperrt er Journalisten aus von Twitter mit einer Behauptung, sie würden seinen Standort verraten. Ebenso willkürlich lässt er sie wieder twittern, nur um andere Journalisten zu sperren, die unangenehme Details über Tesla Motors ausbaggern. Gleichzeitig plant er Angebote, wie die kostenpflichtig verifizierten echten blauen Nutzer andere "niederwählen" können und sie auf diese Weise von Twitter ausgesperrt werden können. Das dürfte zu einer regen Nachfrage nach diesen Konten führen, entweder auf Twitter oder im Darknet, alles nur um diese "woken Linken" rauszuwerfen, die mit ihren ewigen Hinweisen auf die US-Verfassung, die freie Rede und das Recht auf Wahlen stören. Solch organisiertes Downvoting kann andere unerwünschte Personen treffen, die als Minderheiten Twitter genutzt haben, um auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen. Das Haifischbecken wird monetarisiert, aber wenn das "Downvoting" der Werbekunden bestehen bleibt, dürfte Twitter noch größere Verluste einfahren als bisher. Da hilft es auch nicht, dass das Land der Frühaufsteher mit dem Ministerium für Infrastruktur und Digitales auf Twitter angekommen ist, natürlich ordentlich verifiziert. Auch die Mahnung des Auswertigen Amtes irritiert: "Pressefreiheit darf nicht nach Belieben ein- und ausgeschaltet werden", als ob es einen Freiheits-Kippschalter gibt. Geradezu unterwürfig gibt sich der deutsche Justizminister, der Respekt für die "Größe" von Elon Musk hat, einen Fehler einzugestehen. Das ist ein glattes Schönreden der "Willkühr", würde Seume notieren.

*** Bleibt die Frage, was hinter der Muskschen Zerstörungswut steht. Eine Theorie besagt, dass Musk ein gutes Stück der Management-Theorie des ehemaligen Trotzkisten James Burnham übernommen hat, der 1941 die Manager-Klasse als höchste Stufe des entwickelten Kapitalismus analysierte und dabei Hitler-Deutschland wie Stalins Sowjetunion als vorbildliche Staaten pries. Die Experten und Administratoren, die Technokraten und vor allem die Propagandaspezialisten sitzen nach Burnham an den Schalthebeln der politischen Macht wie an den Stellhebeln großer Konzerne. Die Kündigungswelle, die Musk bei Twitter durchsetzte, ist in dieser Lesart der Versuch, genau diese Manager loszuwerden. Ergänzt wird das ganze durch die spätere Schrift vom "Selbstmord des Westens", in der Burnham in den 60er-Jahren die "Liberalen" als Ursache für den Verfall der USA verantwortlich macht. In seiner Beschreibung der liberalen Untugenden, ihrem mangelnden Patriotismus und dem Beharren auf Diversität fehlt eigentlich nur das heute "woke" – das Wörtchen "wog" als Slangausdruck für Farbiger machte sich damals gerade auf den Weg. Ob Musk Burnham gelesen hat oder nur eines der vielen Management-Bücher, die Burnham später ausschlachteten, das dürften später Wissensenschaftler klären. Burnham, der Deutschlands Sieg prophezeihte und Stalin als legitimen Erben von Lenin pries, brachte jedenfalls einen anderen Autor auf Gedanken.

*** Nach der ausführlichen Beschäftigung mit James Burnham und Peter Drucker schrieb George Orwell im Aufsatz Second Thoughts of Burnham über Gesellschaften, die kapitalistisch oder kommunistisch genannt werden mögen: "Jack London, in The Iron Heel (1909), foretold some of the essential features of Fascism, and such books as Wells’ The Sleeper Awakes (1900), Zamyatin’s We (1923), and Aldous Huxley’s Brave New World (1930), all described imaginary worlds in which the special problems of capitalism had been solved without bringing liberty, equality, or true happiness any nearer. More recently, writers like Peter Drucker and F. A. Voigt have argued that Fascism and Communism are substantially the same thing. And indeed, it has always been obvious that a planned and centralized society is liable to develop into an oligarchy or a dictatorship." Nach diesem Aufsatz machte sich Orwell daran "1984" zu schreiben. Vierzig Jahre später wird ein Auto für 48 Stunden zwangsabgeschaltet, wenn man sich ungehörig betragen hat, siehe Eingangsbild. Alles Science Fiction?

*** Wer regiert, sollte nicht halluzinieren oder an Science-Fiction-Szenarien glauben. Zu den seltsamsten Aussagen dieser Woche im allgemeinen Hype um die Kernfusion gehört die Aussage der amtierenden Forschungsministerin Bettina Stark-Wanziger, dass man schon in einer Dekade mit der Fusion den Energiebedarf decken kann. Die Arbeit an Fusionsreaktoren ist Grundlagenforschung und dürfte noch 30 Jahre und länger weiterlaufen. Es ist unredlich, sie im Auge des real existierenden Klimawandels als Zukunftstechnik anzusiedeln. Noch unredlicher ist eigentlich nur die Aussage ihres Parteikollegen Christian Lindner, der vom Verbieten und Aussteigen jammert: Deutschland hat etliche Milliönchen in die Fusionsforschung gesteckt, weil man das machen möchte, was die Sonne für uns tagtäglich leistet. Befremdlich auch, wie in vielen Artikeln zum "Durchbruch" mit den Pellets verschwiegen wird, dass die 3,5 Milliarden teure Anlage vom Pentagon finanziert wird und damit zur Militärforschung gehört. In dieser Hinsicht sollte man wieder einmal an Günther Anders denken, der in seiner "Antiquiertheit des Menschen" über die von ihm vehement abgelehnten atomaren Forschung schon 1956 schrieb: "Vielmehr gibt es keinen Zug, der für uns Heutige so charakteristisch wäre wie unsere Unfähigkeit, seelisch 'up to date', auf dem laufenden unserer Produktion zu bleiben, also in dem Verwandlungstempo, das wir unseren Produkten selbst mitteilen, auch selbst mitzulaufen und die in die Zukunft vorgeschossenen oder uns entlaufenen Geräte einzuholen."

*** Im Iran haben die Hinrichtungen der jungen Menschen begonnen, die mutig gegen das Kleriker-Regime protestierten. Zum friedlichen Weihnachtsfest stehen bereits zehn weitere Personen auf der Liste der Todeskandidaten. Ob die Patenschaften deutscher Politiker:innen helfen können, ist nicht ausgemacht. Unverständlich bleibt, dass es die EU nicht schafft, die Revolutionsgarden als terroristische Organisation einzustufen und Ali Chamenei auf die Liste der Terroristen zu setzen. Wenn man mit dem diesem Iran wegen der Ölreserven weiter Geschäfte machen will, ist das eine Form der Korruption, gegen die die anderthalb Millionen Euro aus Katar Peanuts sind.

Gleich drei Darknet-Plattformen konnte das Bundeskriminalamt abschalten und Personen festnehmen, gegen die wegen der bandenmäßigen Verbreitung von Kinderpronografie ermittelt wird. Die Ermittlungen mit Polizei-Partnern in Australien, Brasilien und den USA dauern noch an, deshalb gibt es keine Auskunft von den Kriminalern, welche Rolle IP-Adressen dabei spielten, nur die allgemeine Aussage, dass die "Identität eines Mannes, der anonym im Tor-Netzwerk agierte, letztlich erfolgreich aufgedeckt werden konnte." Das sind gute Nachrichten, die Bundesinnenministerin Nancy Faeser mit nach Brüssel nehmen kann, wenn die nächsten Beratungen über das "Grooming" anstehen und sich Faeser trotz einig blinkender Ampel dem Client-Side-Scanning auf den Endgeräten weiter annähern sollte. So endet bald das Jahr, wie es begonnen hat, als die französische Ratspräsidentschaft das Thema Chatkontrolle energisch vorantreiben wollte. Mit einem letzten Link wünsche ich allen eine schöne Vor-Weihnachtsfeier in der Firma, im Verein oder vor der Kita. Kein Feuer in geschlossenen Räumen! Keine Kriege auf der Erdkugel!

Die Klage des Geschichtsschreibers

Im vierten Buch der Annalen beklagt sich Tacitus
Über die Dauer der Friedenszeit, kaum unterbrochen
Von läppischen Grenzkriegen, mit deren Beschreibung er
Auskommen muss, voll Neid
Auf die Geschichtsschreiber vor ihm
Denen Mammutkriege zur Verfügung standen
Geführt von Kaisern, denen Rom nicht groß genug war
Unterworfene Völker, gefangene Könige
Aufstände und Staatskrisen: guter Stoff.
Und Tacitus entschuldigt sich bei seinen Lesern.

Ich meinerseits, zweitausend Jahre nach ihm
Brauche mich nicht zu entschuldigen und kann mich
Nicht beklagen über Mangel an gutem Stoff.

(Heiner Müller, 1992)

(bme)