Wissings obskure Wortwahl: "Flächendeckendes" Tempo 30 hat niemand gefordert

Die Erweiterung des Straßenverkehrsgesetzes soll Kommunen bei der Verkehrsplanung mehr Spielraum verschaffen. Doch beim Tempo 30 ist Schluss mit Lustig.

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(Bild: Gena Melendrez/Shutterstock.com)

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Vor zwei Jahren haben Aachen, Augsburg, Freiburg, Hannover, Leipzig, Münster und Ulm die Initiative "Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeiten" gegründet. Die Städte wollen selbst entscheiden, wann und wo sie welches Tempo anordnen. Mittlerweile sind fast 800 Kommunen dieser Initiative beigetreten. Und auch beim Bund fand sie offenbar Resonanz: Das Kabinett hat am Mittwoch die Erweiterung des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) beschlossen. Es verschafft den Kommunen nun mehr Spielraum bei der Gestaltung ihres Verkehrs. "Damit wäre eine der Kernforderungen der Initiative erfüllt", heißt es auf deren Webseite.

Das neue StVG nennt jetzt nicht nur "Leichtigkeit und Sicherheit" des Verkehrs als Ziel, sondern gleichrangig auch "Klima- und Umweltschutz, Gesundheit und städtebauliche Entwicklung". Damit setzt es einen neuen Rahmen für die Straßenverkehrsordnung (StVO). Dort müssen die konkreten Änderungen dann festgeschrieben werden.

Bisher lege die StVO den "Kommunen unnötige Hürden in den Weg" und mache "sachgerechtes Handeln teilweise unmöglich", so die Initiative – etwa bei der Schaffung von Anwohnerparkplätzen, Zebrastreifen oder Busspuren. Zudem schreibt Paragraph 45 der StVO vor, dass Tempo 30 "nur bei konkreten Gefährdungen bzw. vor sozialen Einrichtungen wie beispielsweise Kitas und Schulen angeordnet werden kann". (Allerdings haben viele Kommunen ihren bisherigen rechtlichen Spielraum nicht ausgenutzt, wie eine Studie des Leibniz-Instituts für Länderkunde herausgefunden hat.)

Ein Kommentar von Gregor Honsel

Gregor Honsel ist seit 2006 TR-Redakteur. Er glaubt, dass viele komplexe Probleme einfache, leichtverständliche, aber falsche Lösungen haben.

Nun müsse zügig auch die StVO überarbeitet werden, fordert die Initiative. Welchen Freiraum die Städte und Gemeinden dann wirklich bekommen werden, ist allerdings noch offen. Hört man sich die Rhetorik von Bundesautoverkehrsminister Volker Wissing an, sollten sie besser nicht zu viel erwarten. Das fängt schon bei der Wortwahl an. Immer wieder spricht er sich gegen ein "flächendeckendes" Tempo 30 aus. Dabei hat das niemand gefordert. Die Kommunen wollen Tempo 30 lediglich anordnen dürfen, wo sie es für notwendig halten.

Weiterhin blieben "Sicherheit und Leichtigkeit" des Verkehrs Hauptziele des Straßenverkehrsgesetzes, sagt Wissing. Doch was genau kann er mit "Leichtigkeit" meinen, wenn nicht die des Autoverkehrs? Fuß- und Radverkehr wären durch Tempo 30 jedenfalls nicht sonderlich erschwert. Und wenn etwas wirklich der Sicherheit dient, dann doch wohl Tempo 30. Aber so hat Wissing das vermutlich nicht gemeint.

Die "Freiheit" darf natürlich auch nicht fehlen. Kernaufgabe des Staates sei es, "Freiheitseingriffe" zu begründen, sagt Wissing. Deshalb müssten Kommunen sich weiterhin rechtfertigen, wenn sie Tempo-30-Zonen ausweisen wollten. Eine leichtere Anordnung von Tempo-30-Regelungen solle es lediglich bei Spielplätzen sowie hochfrequentierten Schul- und Fußgängerüberwegen geben.

Freiheit ist für Wissing offenbar – auch hier wieder völlig unhinterfragt – die Freiheit des Autofahrenden. Was aber ist mit der Freiheit der Kommunen, ihre Sachen selbst zu regeln, ohne ständig den Bund fragen zu müssen? Bei jeder Gelegenheit huldigt die FDP der "Eigenverantwortung" und dem "Subsidiaritätsprinzip" – also dem Grundsatz, dass lokale Entscheidungen möglichst auch von lokalen Akteuren ohne Einmischung von oben getroffen werden sollten. Wann aber wären Eigenverantwortung und Subsidiarität angebrachter als beim innerörtlichen Verkehr? Wer sollte besser wissen, was vor Ort geht und was nicht, als die gewählten Lokalpolitikerinnen und -politiker?

Ebenso obskur ist Wissings Argument, der Durchgangsverkehr würde sich bei einem durchgängigen Tempo 30 "seinen Weg durch Wohngebiete" suchen. Warum sollte er? Der Verkehr ließe sich ja beispielsweise auch durch Vorfahrtsregeln kanalisieren. Wenn Sie die Wahl haben zwischen einer Vorfahrtsstraße und einem Wohngebiet mit Rechts-vor-Links-Regelung, welchen Weg würden Sie nehmen? Eben. Und zur Not kann eine Kommune immer noch Tempo-50-Durchgangsstraßen ausweisen.

Im Grunde geht es bei der ganzen Debatte doch vor allem um genervte Autofahrinnen und Autofahrer. Die FDP versucht das zu kaschieren, indem sie ständig die wuchtigsten Werte in Stellung bringt, die gerade in Griffweite sind: "Freiheit", "Sicherheit", "Leichtigkeit".

Ja, Tempo 30 nervt auch mich, wenn ich motorisiert unterwegs bin. Auch ich fahre gerne schneller. Aber: So what? Wir können doch nicht die gesamte Politik davon abhängig machen, was uns nervt und was nicht.

(grh)