Anonymisierungsfehler: Frei zugängliche Gerichtsentscheidungen in Gefahr​

Openjur sammelt deutsche Gerichtsentscheidungen in einer freien Datenbank. Eine Klage wegen unvollständiger Anonymisierung bedroht die Existenz des Projekts.​

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Statue der Justizia vor blauem Hintergrund

(Bild: nepool/Shutterstock.com)

Lesezeit: 5 Min.
Inhaltsverzeichnis

Gerichte im deutschen Sprachraum anonymisieren ihre Entscheidungen in aller Regel. Das ist aufwändig, was mit ein Grund ist, warum die meisten Gerichtsentscheidungen unveröffentlicht bleiben. Die Schweiz, Österreich und neuerdings zwei deutsche Länder hoffen, dass Künstliche Intelligenz die Anonymisierung von Gerichtsurteilen beschleunigen kann. Ganz fehlerfrei geht das natürlich nicht. Und solch ein Fehler bedroht jetzt die Existenz des gemeinnützigen Projekts Openjur.

Openjur ist eine freie Datenbank deutscher juristischer Entscheidungen, finanziert aus Spenden. Seit 2009 hat der gemeinnützige Betreiber mehr als 600.000 Dokumenten zusammengetragen, die bereits mehr als 400 Millionen mal abgerufen wurden – im Unterschied zu kommerziellen Anbietern gebührenfrei. Damit ist vielleicht bald Schluss.

Denn eine Person hat Openjur verklagt (Landgericht Hamburg, Az. 324 O 278/23), weil die Datenbank den Beschluss eines Verwaltungsgerichts enthielt, der nicht ausreichend anonymisiert gewesen sei. "Im Gerichtsverfahren fordert der Kläger nunmehr Unterlassung, Auskunft, Schadensersatz in Höhe von mehreren Tausend Euro sowie Ersatz der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten" von Openjur, was fast 13.000 Euro kosten könnte. Das entspreche den Betriebskosten von fünf Jahren, berichtet das Projekt.

Openjur ist sich keiner Schuld bewusst: Das Dokument wurde so wiedergegeben, wie vom Verwaltungsgericht veröffentlicht. Der Anonymisierungsfehler ist beim Gericht passiert, das seinen Beschluss in die Datenbank seines Bundeslandes stellte, von wo wiederum Openjur den Text bezogen hat. Die Beschwerde des Betroffenen sei eines Freitagabends per Fax eingetroffen; dennoch habe Openjur die Textpassagen binnen 20 Minuten entfernt. Trotzdem folgte eine Klage.

Sollte der Gerichtsprozess dazu führen, dass Openjur für die Weiter-Veröffentlichungen haftet, oder verpflichtet ist, die amtlichen Veröffentlichungen noch einmal nachzuprüfen, könnte das Urteil der letzte Eintrag in der seit 14 Jahren gepflegten Datenbank sein. Das hat der ehrenamtliche Geschäftsführer Benjamin Bremert im Gespräch mit Ars Boni erläutert: Der Prüfungsaufwand und das nicht kalkulierbare finanzielle Risiko seien für ein kleines, nichtkommerzielles Projekt untragbar.

Klein ist noch eine Untertreibung: Im Jahr 2021 hat Openjur 2.011,16 Euro Spenden erhalten, im Jahr davor waren es sogar nur 383,40 Euro. Die Betriebskosten sind etwas höher. Die Klage versteht Bremert nicht, schließlich sei bei Openjur finanziell nichts zu holen. Auch für die Verfahrenskosten ist Openjur auf Spenden angewiesen. Deutsche Steuerzahler können Spenden an Openjur von der Einkommensteuer absetzen.

Die deutsche Anonymisierungspraxis ist im internationalen Vergleich besonders streng. In vielen Ländern werden Entscheidungen nur in Ausnahmefällen anonymisiert, auch beim EU-Gericht müssen Betroffene das ausdrücklich beantragen und begründen. Österreich anonymisiert ebenfalls, nennt in der Judikatur-Sammlung des Rechtsinformationssystems im Unterschied zu deutschen Gerichten aber immerhin die Anwälte, die die Parteien vor Gericht vertreten haben. Das unterstützt die juristische Praxis.

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Um Anonymisierung im datenschutzrechtlichen Sinn handelt es sich übrigens nicht. Wirklich anonymisierte Entscheidungen, bei denen niemand auf die beteiligten Personen schließen kann, wären weitgehend unnütz. Schließlich sind Angaben zum Sachverhalt wichtig, um die Entscheidung nachvollziehbar zu machen. Und der Sachverhalt lässt Wissende auf die Beteiligten schließen. Deutsche Gerichte sind vielmehr gehalten, einen Ausgleich zwischen transparenter Justiz und Persönlichkeitsrechten zu finden.

Die Veröffentlichungspraxis der deutschen Bundesländer klaffe weit auseinander, berichtet Bremert bei Ars Boni im Gespräch mit Universitätsprofessor Nikolaus Forgó: "Es gibt Bundesländer, die veröffentlichen sehr viel, (wie Nordrhein-Westfalen und Bayern), und dann gibt es Bundesländer, wo tatsächlich sehr viel weniger veröffentlicht wird, beispielsweise Schleswig-Holstein", wo das Oberlandesgericht nur einen niedrigen einstelligen Prozentsatz seiner Entscheidungen herausgegeben habe. Die Situation werde besser, doch gerade von Amtsgerichten komme immer noch sehr wenig.

Zudem seien weder das Dateiformat der Veröffentlichungen einheitlich, noch gäbe es eine republikweite Datenbank. Nordrhein-Westfalen sei mit seiner Landesdatenbank sogar Vorreiter. Diese Situation möchte Openjur lindern, indem es Entscheidungen deutscher Gerichte in mühsamer Handarbeit zusammenträgt und durchsuchbar veröffentlicht. Im Unterschied zu kommerziellen Anbietern verrechnet Openjur keine Gebühren.

Behörden-Albtraum

"Sie sind der Albtraum jeder Behörde, weil Sie mit einem wirklich lächerlichen Aufwand einen gigantischen Output produzieren", sagt Universitätsprofessor Nikolaus Forgó zu Openjur-Geschäftsführer Benjamin Bremert.

Manche Gerichte senden Entscheidungen direkt an Openjur, beispielsweise in Hamburg. Zusätzlich fordert Openjur bestimmte Entscheidungen aktiv an. Hinzu kommen Zusendungen Dritter, meist Verfahrensbeteiligter. Schließlich crawlt Openjur amtliche Veröffentlichungen im Internet.

Der aktuelle Fall sei keineswegs der erste Anonymisierungsfehler eines deutschen Gerichts, lässt Bremert durchblicken: Manche Gerichte würden Openjur von sich aus auf ihre Fehler aufmerksam machen, damit sie in der freien Datenbank korrigiert werden können. Zudem kann auf Openjur bei jedem Dokument ein Hinweis eingereicht werden. Unterstützung durch KI oder zumindest automatisierte Ausspielung von Entscheidungen und deren nachträglicher Korrekturen seitens der Gerichte in einem einheitlichen Format wären für Openjur eine große Hilfe, träumt Bremert.

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(ds)