Coronakrise als Chance der Bürger, sich die Stadt zurückzuerobern

Städte haben Chancen für einen Neuanfang, wenn sie öffentliche Räume nicht für die Touristen öffnen, meint der britische Soziologe Richard Sennett.

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Coronakrise als Chance der Bürger, sich die Stadt zurückzuerobern

Eine Fotografie aus einer Zeit, als das neuartige Coronavirus noch nicht über die Welt kreuzfuhr.

(Bild: dpa)

Lesezeit: 2 Min.
Von
  • Detlef Borchers

Der britische Soziologe Richard Sennett sieht die Coronakrise als Chance für die Bürger, sich ihre Stadt selbst wieder anzueignen. Venedig und das klare Wasser in den Lagunen sind mit der Abwesenheit der Kreuzfahrschiffe zu einem Symbol der Coronakrise geworden. Doch Venedig ist seit der Besetzung durch Napoleon keine eigenständige Stadt besonnener Bürger mehr. Etwas anders sieht es mit London oder Berlin aus. Hier eröffne die Coronakrise die Chance, städtische Räume neu zu besetzen und den Bürgern zurückzugeben.

Sennetts Stichwort seines Vortrags auf der zurzeit im Web stattfinden re:publica lautet "Urbane Widerständigkeit". Der Soziologe forscht in einem UN-Projekt, wie sich Städte nach der Pandemie entwickeln können. Sein Plädoyer für eine Stadt, die Bürger vielfältige Lebensräume eröffnet, kam mit einer Absage an den herkömmlichen Tourismus einher. Sennett sprach sich für Bürgerprojekte aus, die die städtischen Räume neu konzipieren können, die zuvor von Touristen "ko-optiert" wurden; also anders als in New York, wo Multimillionäre wie Bill Gates, Eric Schmidt und Michael Bloomberg die Stadt umkrempeln sollen.

Sennett verteidigte Hilfsmittel wie die vieldiskutierte App für das Kontakt-Tracing. Hier solle die Überwachungsfunktion von der Informationssammlung getrennt werden, die dort benötigt wird, wo Menschen in großer Dichte zusammenleben. Dabei ginge es vor allem darum, in der Pandemie nicht in Panik zu verfallen, nüchtern zu bleiben und als Bürger zu handeln.

"Wenn wir nach der Polizei rufen, um alles zu regeln, haben wir keine bürgerliche Gesellschaft", erklärte Sennett, der bereits 2016 auf der re:publica über offene Städte referierte. Im Zuge eines Neustarts der Städte gelte es, viele Dinge neu zu regeln, nicht das soziale Distanzieren einzuüben. So gehöre auch die Definition eines Grundeinkommens zum Neustart, desgleichen Mietendeckel, um das Leben der Einkommensschwachen zu sichern. Sie seien doppelt betroffen, da sie in Berufen arbeiten, die keine Distanz der Arbeitenden kennen.

Wer hundertprozentige Sicherheit in seinem Leben haben wolle, müsse nach Nordkorea ziehen, meinte Sennett. Wer ein absolut risikofreies Krankenhaus haben wolle, müsse eines ohne Ärzte und Pfleger konstruieren. Insgesamt sei es an der Zeit, die Kriterien der Risikogesellschaft neu zu definieren. (anw)