Der Cyberspace: Unendliche Weiten... und neue Werte?

Neue Werte und neue Gemeinschaften im Cyberspace? Eine Konferenz der HdK Berlin versuchte sie zu umreißen - aber die Gegenbewegung rollt schon.

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Von
  • Richard Sietmann

Das Internet wird zum Lebensraum und der Einzelne zum Cyberbürger, der Geborgenheit in virtuellen Gemeinschaften findet, die keine räumlichen Grenzen mehr kennen – so verkünden es Euphoriker wie Howard Rheingold und Esther Dyson schon seit langem. Beispiellose Wahlmöglichkeiten, reibungsloser Kapitalismus und eine nahezu anarchistische Perspektive im Umgang mit herkömmlichen Strukturen, das ist der Kern des Cyber-Lybertarianism.

Werte statt Geld

"Wir werden alle Teilnehmer in vielfach vernetzten Organisationen", meint auch Willem Velthoven, Deutsche Bank 24 Professor für Multimediale Kunst an der Hochschule der Künste (HdK) in Berlin und Initiator der monomedia berlin: value. Die rund 500 Teilnehmer an dieser Konferenz vom 12. bis 14. Mai suchten in den Worten von HdK-Präsident Lothar Romain nach Anregungen und Inspirationen, "auf kreative Weise neue gesellschaftlich und wirtschaftlich wertvolle mediale Konzepte zu entwickeln und zu realisieren".

Die HdK hat den bundesweit ersten Studiengang Electronic Business initiiert, und ursprünglich sollte die Konferenz "Geld" zum Thema haben, wie Willem Velthoven freimütig zugab. Aber das war dem Inhaber des von der Bank gestifteten Lehrstuhls denn doch zu profan. "Das eigentlich Interessante am Geld ist doch, das Menschen es zum Austausch von Werten benutzen." Der Rest des verquasten Titels der von der Deutschen Bank 24, UUnet, Pixelpark und anderen Firmen gesponserten monomedia berlin: value drückt aus, worum es noch ging: Um Medien, und dabei immer nur um das eine, das Internet, das alle anderen Kommunikationssysteme auf seine universelle Plattform zieht. Tatsächlich ist in der gegenwärtigen Internet- und E-Commerce-Euphorie der Markt für die Designer pfiffiger Werbebanner und Web-Auftritte schier unerschöpflich. Die HdK bildet sie aus.

"Wir arbeiten im Netz, die Stadt bildet sich im Netzwerk ab, die Familie wird durch das Netz verbunden sein; man kauft, zahlt und spielt im Netz, die Unterhaltung kommt über das Netz", meinte Willem Velthoven. Ihm sei zwar klar, dass dies alles "nicht unbedingt nur schöne Aussichten" berge, doch sei dies "die Richtung, die ein großer Teil der Gesellschaft eingeschlagen hat". Das Internet ermögliche, "mit Menschen verbunden zu sein, mit denen man die gleichen Werte teilt", beschreibt Velthoven den Mechanismus, und "unsere Kultur und Gesellschaft basiert auf miteinander geteilten Werten".

Eindimensional und hohl

Alles falsch, bezieht der Politologe Langdon Winner vom Rensselaer Polytechnic Institute in Troy (New York) die Gegenposition. Das Kontrastprogramm präsentierte er just zwei Tage vor der HdK-Veranstaltung, zufällig und unabhängig davon, in einem Vortrag auf dem Einstein-Forum in Potsdam unter dem Titel "Der einsame Cyberbürger – der Kollaps der Gemeinschaft im Cyberspace". Unter Berufung auf jüngste Studien legte er dar, wie Chat-Rooms und Instant Messaging zur Verflachung der Kommunikation führen und die bloße Illusion von Nähe erzeugen, während die wirklichen Gemeinschaften in Familie, Schule und am Arbeitsplatz verschwinden.

Winner sieht das Internet als weiteren Schritt und Verstärker der vom motorisierten Individualverkehr hervorgerufenen Suburbanisierung, der Segregation einzelner Bevölkerungsschichten und der Schwächung sozialer Bindungen. Waren Städte einst multikulturelle "Laboratorien der Verschiedenheit" mit eingespielten Mechanismen der Konfliktbewältigung, so geht im Internet die Verschiedenartigkeit des öffentlichen Raumes verloren, weil jeder nur noch Gleichgesinnte sucht und mit ihnen kommuniziert. Die vernetzte Welt ist eindimensional und hohl.

Vergnügt registrierte Winner die ersten Anzeichen einer Gegenbewegung – Bürger, die amazon.com verschmähen und bewusst den Buchladen um die Ecke aufsuchen. In San Francisco tauchen derzeit Poster und Aufkleber mit dem Schriftzug ButIDon’tNeedMyToothpasteDelivered.com auf. Lanciert von einem Künstler mit dem Pseudonym Sam Lowry, parodieren sie die Werbesprüche in Domain-Namen, wie sie mit www.gibt-zunder.de (Microsoft) oder www.mit-77-terabit-durch-europa.de (KPN/QWest) auch hier zu Lande modisch werden. Zu erreichen ist die "anti-dot-com"-Revolte, wie sollte es anders sein, im Web, und zwar unter der URL http://Blowthedotoutyourass.com.

Zur Monomedia-Konferenz siehe auch Telepolis: Welche Werte haben Daten und Netze?

(Richard Sietmann) (jk)