EU-Außenbeauftragter: Vergiftete Informationen untergraben die Demokratie​

Als "eine der Schlachten unserer Zeit" hat der EU-Außenbeauftragte Borrell den Kampf gegen Informationsmanipulation und Einmischung aus dem Ausland ausgemacht.​

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Viele Menschen, die in einer Wiener U-Bahn-Station zum Stiegenaufgang drängen, fotografiert von hinten

Symbolbild Europäer

(Bild: Daniel AJ Sokolov)

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Mögliche Maßnahmen zur Bekämpfung von Desinformation im Vorfeld des Super-Wahljahres in Europa und anderen Teilen des Globus hat der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell am Dienstag auf einer Konferenz des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EEAS) in Brüssel vorgestellt. Rund zwei Milliarden Menschen weltweit seien 2024 zur Stimmabgabe aufgefordert, erinnerte der Portugiese. Informationsmanipulation und Einmischung aus dem Ausland gestalteten sich dabei als große Gefahr. Es gehe letztlich darum, "unsere Gesellschaften vorzubereiten und zu schützen", mit einer Reihe von Instrumenten wie Situationsbewusstsein, Resilienzaufbau etwa über das Frühwarnsystem der EU, Vorgaben für die Sicherheit im Informationsumfeld, "Pre-Bunking", also dem Anlegen einer mentalen Rüstung, sowie diplomatischen Reaktionen.

Als Hauptakteure hat der EEAS in seinem zweiten Bericht zu dem Thema Russland und China ausgemacht, die absichtlich öffentliche Debatten über diverse Kanäle und Plattformen hinweg manipulierten. Die Motive reichten von der Destabilisierung und Spaltung von Gesellschaften über die Untergrabung demokratischer Institutionen bis zum wirtschaftlichen Profit. Für die Studie untersuchten EEAS-Mitarbeiter von Dezember 2022 bis November 2023 750 Vorfälle. Dabei zeigte sich, dass 59 verschiedene Personen von Gegnern ins Visier genommen wurden. Die Palette reicht von Politikern wie dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und seinem französischen Kollegen Emmanuel Macron bis zu Schauspielern wie Margot Robbie ("Barbie").

Ausländische Propaganda- und Manipulationsangriffe hätten sich "zu einem entscheidenden Bestandteil der modernen Kriegsführung entwickelt", hebt Borrell im Vorwort hervor. Sie stellten "eine große Bedrohung für liberale Demokratien dar, die auf freie und offene Informationen angewiesen sind". Doch "wenn Informationen giftig werden, kann die Demokratie nicht funktionieren." Der Kampf gegen Desinformation sei "eine Frage der europäischen Sicherheit. Es ist eine der Schlachten unserer Zeit", die aber gewonnen werden könne. Die EU müsse das Problem innerhalb der Gemeinschaft und zusammen "mit unseren Partnern angehen".

Telegram und Twitter waren laut dem Bericht die am häufigsten beteiligten Plattformen. Bevor Elon Musk Twitter kaufte, hatte Twitter eine eigene Abteilung zum Schutz demokratischer Wahlen; diese Abteilung hat Musk ersatzlos aufgelöst.

Die Experten für strategische Kommunikation beobachten ausländische Einmischung aber praktisch auf allen großen, neuen und teils auch auf nur wenig genutzten Plattformen. Standardmäßig setzten böswillige Akteure auf portalübergreifende Koordination. 30 Prozent der untersuchten Fälle richteten sich gegen 149 verschiedene Organisationen. Die am häufigsten Betroffenen waren die EU (19 Prozent), die NATO (15 Prozent), die Streitkräfte der Ukraine (14 Prozent), die Vereinten Nationen (3 Prozent) sowie verschiedene Medienorganisationen wie Euronews, Reuters, Deutsche Welle oder die New York Times. Öffentliche Einrichtungen werden meist direkt angegriffen. Bei Medienmarken ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie durch eine Art Identitätsdiebstahl missbraucht werden, um manipulierten Inhalten mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen.

Künstliche Intelligenz (KI) sei dagegen "(noch) nicht die größte Bedrohung". Einschlägige Akteure experimentierten zwar damit. Meistens handle es sich aber auch dabei um Versuche, "sich Zugang zu einem breiten Publikum zu verschaffen und die tatsächliche Bedrohung aufzublähen". Die Verfügbarkeit von KI-Werkzeugen könne für Verteidiger "sogar mehr Vorteile bieten als für Angreifer", prognostizieren die Studienautoren. 2023 habe die Verteidigergemeinschaft insgesamt etwa mit dem "Analyserahmen Disarm" oder der "Online Operations Kill Chain" erhebliche Fortschritte in Richtung eines standardisierten, kollektiven Verständnisses der Bedrohung" gemacht. Im November habe die Organisation OASIS mit dem Projekt Defending Against Disinformation-Common Data Model (DAD-CDM) auch eine Open-Source-Initiative zur Entwicklung einschlägiger Austauschstandards gestartet. Bedrohungsinformationen könnten zudem basierend auf dem "Structured Threat Information Expression"-Standard (STIX) leicht und kontrolliert zugänglich gemacht werden.

(ds)