US-Urteil erschwert Kampf gegen Cyberstalking und Drohungen

Hunderte Drohungen auf Facebook sind nicht genug für eine Verurteilung in den USA. Die Anklage muss zeigen, was im Kopf des Täters vorging.​

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rotes Warndreieck

(Bild: JLStock/Shutterstock.com)

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Beharrlich hat Billy Counterman aus Colorado eine Sängerin, die er nie persönlich getroffen hat, belästigt. Mit wechselnden Facebook-Konten schickte er über lange Zeit hunderte Drohungen an die Frau, die schließlich so viel Angst hatte, dass sie schlecht schlief, Konzerte absagen musste und sowohl ihre Karriere als auch ihre Gesundheit litt. Countermans Drohungen sind nach dem Strafrecht Colorados illegal. Doch der US Supreme Court hat die Verurteilung aufgehoben: Die Auslegung des Gesetzes ist demnach unvereinbar mit dem ersten Zusatzartikel der US-Verfassung, der das Recht auf freie Rede verbrieft.

Colorado stellt unter Strafe, jemanden wiederholt anzusprechen in einer Weise, die bei einer vernünftigen Person schweres emotionales Leiden auslösen würde und bei der konkret angesprochenen Person auch tatsächlich auslöst. Außerdem verbietet es, Dritte laufend zu überwachen und zu verfolgen. Im Strafverfahren legte die Anklage nur die Facebook-Nachrichten Countermans vor. Darin bedrohte er die Sängerin nicht nur objektiv, sondern behauptete auch, sie laufend zu überwachen und zu verfolgen. Beweise für solches Verhalten legte die Anklage ebenso wenig vor, wie Beweise für die inneren Absichten des Täters.

Der Angeklagte berief sich auf sein Recht auf freie Rede, und behauptete, keine echten Bedrohungen gemeint zu haben. Der Strafrichter lehnte dieses Argument ab, da das Strafgesetz nicht auf die subjektiven Absichten des Absenders, sondern auf die Wirkung auf einen objektiven Empfänger sowie den tatsächlichen Adressaten abstellt. Die Geschworenen verurteilten Counterman (The People of the State of Colorado v Billy Raymond Counterman, Arapahoe County District Court Az. 16CR2633), das Berufungsgericht bestätigte das (People v. Counterman, Coloardo Court of Appeals, Az. 17CA1465 2021COA97), das Höchstgericht Colorados lehnte eine weitere Überprüfung ab. Anders der Supreme Court der Vereinigten Staaten.

Laut dessen Erkenntnis vom Dienstag kommt es bei verfassungskonformer Interpretation des Strafrechts sehr wohl auch auf die subjektive Tatseite an. Allein auf den objektiven Gehalt von Äußerungen und die Wirkungen auf Adressaten abzustellen, würde die freie Rede zu sehr einschränken, meint das Gericht. Die Anklage müsse zwar nicht beweisen, dass der Täter wirklich drohen wollte, wohl aber, dass seine Äußerungen grob fahrlässig waren.

Dieses Erkenntnis unterstützen fünf der neun Richter. Der im Strafverfahren in Colorado vorsitzende Richter hat demnach falsch entschieden. Zivilrechtliche Klagen sind von der Einschränkung nicht betroffen.

Nur zwei der neun Richter wollten die Verurteilung bestätigen. Zwei andere Richter wollten einen noch strengeren Maßstab, nämlich dass nachzuweisen sei, dass der Absender tatsächlich schweres emotionales Leid auslösen wollte. Im Endergebnis wurde das Urteil mit 7:2 Stimmen aufgehoben, der Fall People v. Counterman wandert zurück zur ersten Instanz. Der Aufschrei unter Verfechtern von Opferrechten ist groß: Die Entscheidung erschwere die strafrechtliche Verfolgung von Stalkern erheblich, kritisieren sie.

In einer Sache sind sich alle neun Richter des US Supreme Court einig: In Strafverfahren wegen Aufstachelung zu Gewalt oder Anstiftung zu Straftaten sei jedenfalls nachzuweisen, dass der Angeklagte mit seinen Äußerungen tatsächlich aufstacheln beziehungsweise anstiften wollte. Grobe Fahrlässigkeit reiche für eine Verurteilung nicht aus. Dieses Obiter Dictum des US-Höchstgerichts erschwert der US-Staatsanwalt deutlich, Ex-Präsident Donald Trump für seine Äußerungen zur Verantwortung zu ziehen, die den gewaltsamen Umsturzversuch am 6. 1. 2021 in Washington, DC, zur Folge hatten.

Counterman wird allerdings keine Aufstachelung oder Anstiftung vorgeworfen. Für diesen Fall verweist die Erkenntnisbegründung auf eine Reihe früherer Entscheidungen. 1952 hat der Supreme Court entschieden, dass Fehlverhalten "bewusst" erfolgen muss, um kriminell zu sein – damals ohne Bezug auf den Ersten Zusatzartikel des Verfassung (Morissette v. United States, 342 U.S. 246). 1964 folgte eine Entscheidung zu einem Fall übler Nachrede unter Berufung auf den Ersten Verfassungszusatz: Seither müssen Politiker in ihren Klagen wegen übler Nachrede nachweisen, dass die gegen sie öffentlich erhobenen Vorwürfe nicht bloß falsch sind, sondern dass der Beklagte diese Vorwürfe zumindest fahrlässig erhoben hat (New York Times Co. v. Sullivan, 376 U.S. 254). Genau diesen Maßstab legt der Supreme Court im Strafrecht jetzt auch bei Drohungen an.

(ds)