Ukraine: Erhöhte Strahlungswerte in Tschernobyl – Strom könnte knapp werden

Vermutlich durch Truppenbewegungen wurden in Tschernobyl Radionuklide aufgewirbelt. Unterdessen wurden in der Ukraine zwei AKW abgeschaltet.

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Ausschnitt aus einem in Tschernobyl aufgenommenen Video, das der belarussische Journalist Tadeusz Giczan auf Twitter veröffentlicht hat

(Bild: Twitter)

Update
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Im Zusammenhang mit Kampfhandlungen in der Ukraine sind offenbar zwei von sechs Reaktoren des Atomkraftwerks Saporischschja abgeschaltet worden. Die zwei Reaktoren seien aus Gründen der Verbundsicherheit in Reserve genommen worden, heißt es aus der Ukraine. Da die Ukraine momentan im Inselbetrieb läuft, also kein Strom aus dem Ausland bezieht, könnte die Versorgung knapp werden, erläuterte ein Sprecher der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) gegenüber heise online.

Die 15 ukrainischen Reaktoren an vier Standorten – allesamt Druckwasserreaktoren russischer Bauart – decken nach Angaben der Internationalen Energieagentur (IEA) mit einer jährlich erzeugten Strommenge von etwa 75 Terawattstunden gegenwärtig deutlich über die Hälfte des dortigen Stromverbrauchs. In Saporischschja erzeugt jeder der Blöcke im Volllastbetrieb eine Nettoleistung von 950 Megawatt (MW). Ende 2021 waren in der Ukraine 14 Reaktoren im Betrieb, im Januar wurden wegen Wartungsarbeiten zwei Reaktoren vom Netz genommen.

Bei der Versorgung der Anlagen mit Kernbrennstoff kann die Ukraine bisher nur für sechs Reaktorblöcken auf Brennelemente eines westlichen Herstellers zurückgreifen, erläutert die GRS; die übrigen Reaktoren benötigen bauartbedingt noch Brennelemente aus russischer Fertigung.

Unterdessen haben Messgeräte der Nuklearaufsicht der Ukraine (SNRIU) auf dem Gelände des stillgelegten Atomkraftwerks Tschernobyl erhöhte Gammastrahlungswerte festgestellt. Daten, die vom staatlichen Messnetz MEDO veröffentlicht werden, bestätigen dies. Dortige Experten gehen davon aus, dass die erhöhte Ortsdosisleistung durch Truppenbewegungen, insbesondere von schwerem Militärgerät verursacht wurden, indem sie die oberste Bodenschicht und damit Radionuklide aufgewirbelt haben. Auf dem Kraftwerksgelände selbst sollen keine Beschädigungen festgestellt worden sein, meldete die IAEA.

Unabhängig überprüfbar seien die Angaben derzeit allerdings noch nicht, teilte das Bundesamt für Strahlenschutz (Bfs) mit. Der mögliche Ursprung der erhöhten Werte sei unklar. Sämtliche Messeinrichtungen würden regelmäßig überwacht, darunter auch die Spurenmessstelle auf dem Schauinsland bei Freiburg. Aufgrund der aktuellen Wetterlage sei allerdings kurzfristig nicht zu erwarten, dass möglicherweise radioaktiv kontaminierte Luft Deutschland erreichen könnte.

Der Zustand der Anlagen in Tschernobyl und anderen Atomanlagen bleibe unverändert, heißt es von der SNRIU. Die GRS steht nach Angaben ihres Sprechers in ständigem Austausch mit der Gegenseite in der Ukraine über die Lage der Atomkraftwerke dort. Ebenso hält es das BfS. Es beobachte die Situation in der Sperrzone von Tschernobyl aufmerksam. Das BfS sei in engem Austausch unter anderem mit der Internationalen Atomenergie-Organisation IAEA und verfolge die Lage.

Atomkraftwerke in der Ukraine

(Bild: GRS)

Das AKW Tschernobyl wurde vor allem durch die Kernschmelze und die Explosion bekannt, die am 26. April 1986 Block 4 zerstörte und zu einem radioaktiven Fallout führte. Inzwischen sichern russische Fallschirmjäger das Gelände. Auch Spezialisten eines ukrainischen Wachbataillons seien nach Absprache weiter im Einsatz, teilte das russische Verteidigungsministerium am Freitag mit. Die Einnahme des Geländes durch russische Truppen wurde von den USA als "Geiselnahme" bezeichnet. Inwiefern insbesondere die Reaktorruine mitsamt Sarkophag und dem geschmolzenen Brennstoff für Kriegszwecke einsetzbar ist, bleibt Spekulationen überlassen.

Update 25.2.22, 15.40: Die finnische Atomaufsicht STUK teilt mit, der Anstieg der Strahungswerte sei lokal und verursache in Finnland keine Schäden. Es müssten keine Jodtabletten gekauft oder eingenommen werden. Dies solle die Bevölkerung ohnehin nur auf behördliche Anweisung machen.

Update 25.2.22, 16.30: Laut IAEO sind die gemeldeten Messwerte von bis zu 9.46 MikroSievert pro Stunde niedrig und blieben innerhalb dessen, was seit Gründung Sperrzone gemessen wurde. Die Strahlung stelle daher keine Gefahr für die Öffentlichkeit dar.

Die deutschen Konstrukteure von großen Teilen des äußeren Schutzdaches der Ruine des Blocks 4 im AKW Tschernobyl sorgen sich wegen möglicher Kriegsschäden, meldet dpa. "Bei leichteren Beschädigungen der Ummantelung wie etwa mit Querschlägern dürften keine verstrahlten Partikel austreten", sagte der Vertriebsleiter der Kalzip GmbH in Koblenz, Christoph Schmidt. Bei größeren Schäden, etwa von "panzerbrechenden Waffen" könnte das anders sein. "Ich glaube und hoffe aber, dass eine mutwillige Beschädigung der Anlage niemandem nützen würde", betonte Schmidt.

Kalzip hat für den AKW-Schutzbogen mit 110 Metern Höhe, 165 Metern Länge und 257 Metern Breite 160.000 Quadratmeter Außen- und Innenhaut geliefert. Die ist zwar nur 0,6 Millimeter dick, aber robust. Die vor mehreren Jahren über einen alten, brüchigen Schutz-Betonsarkophag der AKW-Ruine geschobene neue Ummantelung soll nach früheren Angaben von Kalzip ein Jahrhundert lang den Austritt radioaktiver Strahlen verhindern.

Kalzip ist nach eigenen Angaben "Weltmarktführer für Aluminium-Stehfalz-Eindeckungen". Damit verkleidet die Firma Fassaden und Dächer. Am AKW Tschernobyl hat sie allerdings hitzebeständigeres Edelstahl verwendet.

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(anw)