MIT Technology Review 11/2017
S. 88
Meinung
Bücher

Zerlegte Mythen

Konsum hat ein schlechtes Image. Frank Trentmann hat Belege für eine Ehrenrettung zusammengetragen.

Tausend Seiten über Konsum – kann man so etwas lesen? Der britische Historiker Frank Trentmann zeigt: Es geht. Er beleuchtet unser Verhältnis zu den Dingen so detail- und facettenreich, dass auch der anfangs nur mäßig interessierte Leser bei der Stange bleibt.

Frank Trentmann: Herrschaft der Dinge DVA, 1095 Seiten, 40 Euro (E-Book: 32,99 Euro)

Dabei löst er sich vom westlichen Blick und beschreibt die Phänomene des Konsums quer durch alle Zeiten, Kulturen und Kontinente – vom Mittelalter bis zur Globalisierung, von Afrika bis Asien. Immer wieder zeigt er, wie verwoben der Konsum mit Religion, Politik, Kultur und Wirtschaft ist. So erklärt er etwa die unterschiedliche Vorliebe der Völker für Tee oder Kaffee mit der britischen Kolonialpolitik; stellt dar, warum Hausgeräte nicht notwendigerweise zu mehr freier Zeit führen; zeichnet nach, wie der Boykott britischer Importtextilien zum Symbol des indischen Unabhängigkeitskampfes wurde; untersucht den Einfluss von Klimaanlagen auf das Familienleben (wenn es zu Hause angenehm temperiert ist, bleiben die Bewohner eher daheim); wirft einen nüchternen Blick auf den weltweiten Konsum von Rauschmitteln.

Dabei bedient er sich erstaunlicher Quellen wie dem Nachlass eines 1533 verstorbenen italienischen Wirtes oder dem Dresscode der Nürnberger Patrizier von 1693.

In praktisch jedem Kapitel zerlegt er zudem einen Mythos. Vormoderne Gesellschaften waren extrem ungleich? Irrtum: „In Florenz herrschte um 1500 nicht mehr Ungleichheit als in den Vereinigten Staaten im Jahr 2000.“ Die massenhafte Reproduktion von Kunstwerken führt zu einem standardisierten Geschmack? Im Gegenteil: „Im späten 19. Jahrhundert trieben sich Individualisierung und Vereinheitlichung gegenseitig voran“, so Trentmann. Erst die billige Serienfertigung von Möbeln oder Kunsthandwerk habe eine ausreichende Auswahl hervorgebracht, um jedem Käufer einen persönlichen Einrichtungsstil zu erlauben. Konsum ist vor allem ein Kennzeichen westlicher Gesellschaften? Empirisch nicht haltbar, schreibt Trentmann nach eingehender Beschäftigung mit Kommunismus und Nationalismus. Mehr Wohlstand führt zu weniger Religion? Trentmann nennt reichlich Gegenbeispiele. Fairtrade ist eine eher linke Bewegung? Ursprünglich vielleicht, aber heute passe sie „perfekt in die neoliberale Ära“ und schaffe eine neue Distanz zwischen „mächtigen Konsumenten“ und „machtlosen Produzenten“. Wir leben heute in einer Wegwerfgesellschaft? Viel zu undifferenziert, findet Trentmann nach einer Analyse des Müllaufkommens im New York der 1930er-Jahre.

Immer wieder hinterfragt Trentmann die moralische Bewertung von Konsum als fremdgesteuert, passiv oder profan. An zahlreichen Beispielen aus der Geschichte belegt er: Konsumieren war oft genug ein Akt bürgerlicher Emanzipation.

Dabei verschließt er keineswegs die Augen vor den gravierenden Folgen des Ressourcenverbrauchs für die Umwelt. Recycling, Sharing und mehr Effizienz seien richtig, aber nicht ausreichend. Wirklich nötig sei eine „mutige Debatte“ über unseren Lebensstil. GREGOR HONSEL

UMWELT

Ohne Fleisch

Der Dokumentarfilm „The End of Meat“ beschreibt die Vision einer Welt, in der Menschen keine Tiere oder Tierprodukte mehr essen und so die Massentierhaltung und damit verbundene Umweltweltprobleme beenden.

Für den Weg dahin stellt Regisseur Marc Pierschel auch ganz neue technologische Ansätze vor, wie das von dem Niederländer Mark Post entwickelte künstliche Fleisch, das in Zellkulturen wächst, oder die Bemühungen, Käse, Eier und andere Tierprodukte durch Substitute auf pflanzlicher Basis zu ersetzen. Leider widmet der Film diesen Forschungen nur 15 Minuten – und zwar die letzten.

Davor muss sich der Zuschauer durch zweifellos wichtige, aber teilweise auch bekannte Erkenntnisse kämpfen, wie deprimierende Bilder aus der Massentierhaltung und Hinweise auf die gesundheitlichen Nachteile tierischer Lebensmittel.

Wer dennoch dabeibleibt, wird es nicht bereuen. Pierschel zeigt berührende Szenen von Lebenshöfen, auf denen gerettete Tiere leben, und stellt Ideen zu einem möglichen Zusammenleben von Menschen und sogenannten Nutztieren vor, die zum Nachdenken anregen. KARSTEN SCHÄFER

Marc Pierschel: „The End of Meat“, www.theendofmeat.com

JUBILÄUM

Frankenstein für Naturforscher

Am 1. Januar 2018 jährt sich das Erscheinen von Mary Shelleys berühmtem Schauerroman „Frankenstein“ zum 200. Mal. Dieses Jubiläum nehmen Wissenschaftler der Arizona State University um David Guston zum Anlass, den englischen Text der damals anonym erschienenen Erstausgabe erneut zugänglich zu machen. Schon die von dem inzwischen verstorbenen Shelley-Experten Charles Robinson sorgfältig Wort für Wort restaurierte Fassung ist ein Kleinod. Aber nicht nur das. Zusätzlich bereichern den Band Fußnoten von Fachwissenschaftlern aller Genres. Die Anmerkungen referieren nicht nur den literarischen, philosophischen, historischen und naturwissenschaftlichen Hintergrund des Werks. Sie knüpfen zudem an Shelleys im Zentrum ihrer Geschichte stehende Wissenschaftskritik sowie ihren Appell an die Verantwortung des Forschers an: Viktor wird als Erschaffer der gefährlichen Kreatur zur Rechenschaft gezogen. Da ist es nur konsequent, dass auch die Fußnoten immer wieder die Verbindung zu aktuellen Beispielen aus der synthetischen Biologie, der regenerativen Medizin, der KI oder dem autonomen Fahren herstellen. So wird der Klassiker wieder zur gewinnbringenden Lektüre – nicht nur für Naturwissenschaftler. INGE WÜNNENBERG

Mary Shelley: „Frankenstein. Annotated for Scientists, Engineers and Creators of All Kinds“, Hrsg. von David H. Guston u. a., MIT Press, 320 Seiten, 19,95 Dollar

Kinderbuch

Geburt des Computers

Die Lebensgeschichte von Ada Lovelace ist auf den ersten Blick nicht unbedingt der geeignete Stoff für ein Kinderbuch. Schließlich geht es um Mathematik und die Entstehung der ersten Programmiersprache der Welt – zweifellos grundlegende Dinge, aber nicht unbedingt jene, die einen im Grundschulalter beschäftigen. Dennoch lohnt sich das Buch. Eltern sollten sich allerdings nicht von der Bilderbuch-Gestaltung irritieren lassen und auch mit der Empfehlung „ab 6 Jahren“ des Verlags vorsichtig sein. Begriffe wie „Parallelogramm“ und „industrielle Revolution“ sind dafür zu abstrakt.

Mein vierjähriger Sohn jedenfalls stand beim Vorlesen nach der Hälfte ohne Worte auf. Meine zehnjährige Tochter allerdings blieb sitzen, und es lag nicht an ihrem brennenden Interesse für Mathematik und Informatik.

Sie interessierte das Buch erstens, weil es liebevoll gestaltet ist. Und zweitens, weil die Autorin Fiona Robinson nicht nur von Geometrie und Lochkarten erzählt, sondern auch von Adas vaterloser Kindheit und ihrer späteren tiefen Freundschaft mit Charles Babbage, dem Erfinder der Analytical Engine, dem Vorläufer des Computers. Für diese schrieb Ada, was heute als erstes Computerprogramm der Welt gilt. Robert Thielicke

Fiona Robinson: „Ada Lovelace und der erste Computer“, Knesebeck Verlag, 40 Seiten, 12,95 Euro