Zerlegte Mythen
Konsum hat ein schlechtes Image. Frank Trentmann hat Belege für eine Ehrenrettung zusammengetragen.
Tausend Seiten über Konsum – kann man so etwas lesen? Der britische Historiker Frank Trentmann zeigt: Es geht. Er beleuchtet unser Verhältnis zu den Dingen so detail- und facettenreich, dass auch der anfangs nur mäßig interessierte Leser bei der Stange bleibt.
Dabei löst er sich vom westlichen Blick und beschreibt die Phänomene des Konsums quer durch alle Zeiten, Kulturen und Kontinente – vom Mittelalter bis zur Globalisierung, von Afrika bis Asien. Immer wieder zeigt er, wie verwoben der Konsum mit Religion, Politik, Kultur und Wirtschaft ist. So erklärt er etwa die unterschiedliche Vorliebe der Völker für Tee oder Kaffee mit der britischen Kolonialpolitik; stellt dar, warum Hausgeräte nicht notwendigerweise zu mehr freier Zeit führen; zeichnet nach, wie der Boykott britischer Importtextilien zum Symbol des indischen Unabhängigkeitskampfes wurde; untersucht den Einfluss von Klimaanlagen auf das Familienleben (wenn es zu Hause angenehm temperiert ist, bleiben die Bewohner eher daheim); wirft einen nüchternen Blick auf den weltweiten Konsum von Rauschmitteln.
Dabei bedient er sich erstaunlicher Quellen wie dem Nachlass eines 1533 verstorbenen italienischen Wirtes oder dem Dresscode der Nürnberger Patrizier von 1693.
In praktisch jedem Kapitel zerlegt er zudem einen Mythos. Vormoderne Gesellschaften waren extrem ungleich? Irrtum: „In Florenz herrschte um 1500 nicht mehr Ungleichheit als in den Vereinigten Staaten im Jahr 2000.“ Die massenhafte Reproduktion von Kunstwerken führt zu einem standardisierten Geschmack? Im Gegenteil: „Im späten 19. Jahrhundert trieben sich Individualisierung und Vereinheitlichung gegenseitig voran“, so Trentmann. Erst die billige Serienfertigung von Möbeln oder Kunsthandwerk habe eine ausreichende Auswahl hervorgebracht, um jedem Käufer einen persönlichen Einrichtungsstil zu erlauben. Konsum ist vor allem ein Kennzeichen westlicher Gesellschaften? Empirisch nicht haltbar, schreibt Trentmann nach eingehender Beschäftigung mit Kommunismus und Nationalismus. Mehr Wohlstand führt zu weniger Religion? Trentmann nennt reichlich Gegenbeispiele. Fairtrade ist eine eher linke Bewegung? Ursprünglich vielleicht, aber heute passe sie „perfekt in die neoliberale Ära“ und schaffe eine neue Distanz zwischen „mächtigen Konsumenten“ und „machtlosen Produzenten“. Wir leben heute in einer Wegwerfgesellschaft? Viel zu undifferenziert, findet Trentmann nach einer Analyse des Müllaufkommens im New York der 1930er-Jahre.
Immer wieder hinterfragt Trentmann die moralische Bewertung von Konsum als fremdgesteuert, passiv oder profan. An zahlreichen Beispielen aus der Geschichte belegt er: Konsumieren war oft genug ein Akt bürgerlicher Emanzipation.
Dabei verschließt er keineswegs die Augen vor den gravierenden Folgen des Ressourcenverbrauchs für die Umwelt. Recycling, Sharing und mehr Effizienz seien richtig, aber nicht ausreichend. Wirklich nötig sei eine „mutige Debatte“ über unseren Lebensstil. GREGOR HONSEL