Geese gegen Google: Die EU gegen die mächtigste Suchmaschine der Welt

Seite 4: Stimmung gegen personalisierte Werbung

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Anfang 2018, als Geese im Europaparlament dolmetschte, hat Facebook seinen Algorithmus aktualisiert, um Posts mit "bedeutungsvoller Interaktion" hervorzuheben. "Bedeutungsvoll" definierten Facebooks Mitarbeitende mit einem Punktesystem: Ein Like war einen Punkt wert, Reaktionen und Reshares fünf Punkte, kürzere Kommentare 15 Punkte, längere 30 Punkte. Das Problem ist nur: Posts, die Wut, Angst und Streit verursachen, funktionieren in dieser Punkte-Metrik am besten. "Desinformation, Giftigkeit [engl. "toxicity"] und gewalttätige Inhalte sind unter den Reshares überdurchschnittlich häufig", stellte ein internes Dokument von Facebook fest, das die Whistleblowerin Frances Haugen im Oktober veröffentlichte.

Lichtdurchflutet und mit viel Grün: auf der einen Seite verworren, auf der anderen Seite aber auch wunderschön – ein Blick ins Innere des Parlamentsgebäudes.

(Bild: European Union 2019, Michel Christen)

Facebooks Chefetage weiß, dass es weltweit Schaden anrichtet. "Wir haben Beweise aus einer Reihe von Quellen, dass Hassrede, spaltende politische Rede und Missinformation auf Facebook […] Gesellschaften rund um die Welt beeinflusst", so ein geleaktes internes Papier. Nur: Die Zahlen des "Meaningful-interaction"-Update waren Mark Zuckerberg so wichtig, dass laut Berichten sogar die Boni von Mitarbeitenden daran gekoppelt wurden. "[Facebook] bezahlt für seine Profite mit unserer Sicherheit", sagte Frances Haugen in einem Interview. In anderen Worten: Facebook ist eine digitale Hassmaschine für seine monatlich 2,9 Milliarden Nutzerinnen und Nutzer geworden.

Personalisierte Werbung ist der wirtschaftliche Kern dieses Geschäfts. Wenn personalisierte Werbung verboten wäre, hätten die Netzwerke weniger Anreiz, so viele Daten zu sammeln. Wenn Facebook weniger Daten über seine Nutzerinnen und Nutzer hätte, wären diese nicht so anfällig für das, was ihnen die Algorithmen zielgenau vorschlagen. In frühen Entwürfen des DSA war ein Verbot von personalisierter Werbung vorgesehen. Nur: Im IMCO-Ausschuss ist dieses Verbot erst mal durchgefallen.

"Was es aber in den DSA geschafft hat, sind Dinge, von denen alle nicht verstanden haben, dass sie wirklich den Unterschied machen", sagt Geese auf dem Weg vom Supermarkt zurück zum EU-Parlament. Sie meint neue Rechercherechte, mit denen NGOs, Wissenschaftlerinnen und Wissen-schaftler in Zukunft in den Daten der Plattformen forschen können. Je mehr Studien es darüber gibt, was in sozialen Netzwerken passiert, je mehr die Öffentlichkeit darüber weiß, hofft Geese, desto mehr würde die Stimmung langfristig gegen personalisierte Werbung kippen. Geeses Politik erinnert an ein Schachspiel. In Interviews mit Journalistinnen und Journalisten spricht sie in dieser Woche von einem "Schneeball, der ins Rollen gekommen ist, und zu einer Lawine wird."

Andreas Schwab ist einer der einflussreichsten Digitalpolitiker der EVP. Auch er will gegen die Macht der Digitalkonzerne vorgehen.

(Bild: Andreas Schwab)

Andere Abgeordnete sind weniger optimistisch. "Schneebälle rollen in der Regel nicht den Berg hinauf“, sagt Martin Schirdewan, ein Digitalpolitiker der Linken. "Ich hätte gerne was zu dem Geschäftsmodell der Plattformen gemacht, ich hatte keine Mehrheit dafür. Ich wollte ein Verbot von Werbetracking. Es war nicht möglich", sagt Christl Schaldemose, die als Berichterstatterin dafür zuständig ist, aus den IMCO-Anträgen einen mehrheitsfähigen Kompromiss zu basteln. Auch Andreas Schwab sagt, er sei "kein Freund der Plattformen." "Grundsätzlich kann man ja beobachten: Umso abwegiger und umso bösartiger eine Nachricht ist, desto mehr Traffic zieht sie. Das ist natürlich ein Abwärtstrend, der uns alle irgendwann kaputtzumachen droht. Und da sind wir uns vollkommen einig, dass wir den stoppen müssen", sagt er in einem Zoom-Interview. "Diese Amplifikationseffekte sind eine Gefahr für demokratische Gemeinwesen. Und das Schlimme ist ja, diese Plattformen verdienen genau damit ihr Geld", so Schwab. "Die Vorfälle am 6. Januar im Kapitol wären nicht passiert, wenn wir frühzeitig derartige Gesetzgebung auf den Weg gebracht hätten, weil sich die Leute natürlich dort radikalisiert haben."

Wenn die federführenden Politiker und Politikerinnen der Grünen, Linken, der Sozialdemokraten und sogar der konservativen EVP so kritisch gegenüber den Netzwerken sind – was hält das Europäische Parlament davon ab, sich klar dagegen zu stellen?

Das Problem des DSA ist: Außer den Plattformen selbst versteht fast niemand, was im digitalen Dickicht der Profile, Algorithmen und Rankings eigentlich genau passiert. Den Gesetzesentwurf hat die Kommission von einem promovierten Physiker schreiben lassen, der vor seiner EU-Karriere für Philips an Halbleitern geforscht hat.

Dafür sind die politischen Positionen der großen Plattformen in Brüssel und Straßburg umso präsenter. Laut einer Untersuchung der NGO Corporate Europe Observatory geben Tech-Unternehmen jährlich 97 Millionen Euro für Lobbying in Brüssel aus – mehr als die Autoindustrie. Google und Facebook führen dabei die Liste an, mit Ausgaben von je etwas über fünf Millionen Euro. Neben den prominenten Plakatflächen in Brüssel bekommen sie dafür einen Chor von Stimmen aus Dachverbänden, Verbänden und Netzwerken, die als Graswurzelbewegung getarnt ihre Interessen vertreten.

"Sie haben kleine Unternehmen vorgeschickt mit der Botschaft: Wir können ohne personalisierte Werbung unsere Kundschaft nicht mehr erreichen. Das hat großen Eindruck auf liberale und konservative Abgeordnete gemacht", sagt Jan Penfrat, Mitarbeiter der Bürgerrechtsinitiative EDRi, in einem Zoom-Interview. Künstliche Graswurzelbewegungen werden in Brüssel Astroturfing genannt, abgeleitet von AstroTurf, einer Marke für Kunstrasen.

In der Praxis sieht so was dann so aus: Die Organisation SME Connect ist nach eigenen Angaben ein Netzwerk für kleine und mittlere Unternehmen. 22 Europaabgeordnete, darunter viele aus der EVP, sind auf der Website als "Board" aufgeführt. Erst auf den zweiten Blick fällt auf: Über einen Seitenarm namens "Friends of SMEs" wird das Netzwerk laut eigener Website auch von Google, Facebook, Amazon, Uber und Mastercard unterstützt. Bei einer Gesprächsrunde zum DSA ließ das Netzwerk die Abgeordneten dann mit drei Lobbyistinnen und Lobbyisten diskutieren, deren Verbände auch von Google und Facebook unterstützt werden.

Eine der drei Lobbyistinnen, Karina Stan vom Verband Developers Alliance, versichert in einem Zoom-Interview aus Brüssel, Developers Alliance würde die Interessen von tausenden Programmierenden und "kleinen App-Entwicklern" vertreten. Gerade diese kleinen Entwickler würden darunter leiden, wenn personalisierte Werbung eingeschränkt wird, so Stan. In dem Interview fällt ihr aber kein einziger kleiner App-Entwickler ein, der Mitglied bei "Developers Alliance" ist und tatsächlich darunter leiden würde.

Organisationen, die wirklich kleine Unternehmen in Brüssel vertreten, klingen anders: "Das Problem ist, dass der (Werbe-)Markt zu einseitig ist, dominiert von den Großen", sagt Annika Linck, eine Mitarbeiterin der European Digital SME Alliance – einer tatsächlichen Lobby-Gruppe für kleinere und mittlere Unternehmen. "Wir wollen ein wettbewerbsfreundliches Umfeld haben, freie Wahl in verschiedenen Bereichen." SME Connect habe sie auch schon E-Mails geschrieben und angerufen, sagt Linck. Aber irgendwie seien sie nie zu einer Veranstaltung eingeladen worden.

Am Mittwoch geht es im Parlament wieder um den 750-Milliarden-Aufbaufond der EU, der Geese schon seit zwei Jahren beschäftigt. "Das ist kein Konjunkturprogramm, das ist Männerförderung auf Kosten des Wachstums", protestiert sie in ihrer 60-Sekunden-Rede im Parlament. Aus ihrer eigenen Fraktion kommt vereinzelter Applaus, aus dem rechten Spektrum wieder Kopfschütteln.

Nach ihrer Rede sitzt Geese in der Members Bar, einem Bistro direkt neben dem Parlamentssaal. "Dass die Leute über mich die Augen rollen, ist eher die Norm als die Ausnahme," sagt sie und lacht. "Du hättest mal den Kommissar gerade sehen sollen. Die Leute sind super genervt, aber wenn du Leute nicht nervst, dann bewegst du nichts in der Politik. Das ist ’ne unbequeme Rolle, gerade als Frau." Geese sagt, sie habe keinen speziellen Gegenspieler im Parlament. Es kommt ihr eher so vor, als würde sie Politik gegen eine Wand machen. Eine Wand, die langsam Risse bekommt, die anfängt zu bröckeln.