Klasse Mitte: Motorrad-Mittelklasse im Trend

Leistung ist relativ: Die Neuzulassungen der leistungsstarken Bikes stagnieren auf niedrigem Niveau. Die Mittelklasse um 650 ccm dagegen boomt.

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Fahrfreude mit halben Sachen: Der neue Zweizylinder-Reihenmotor der neuen Aprilia Tuono 660 ist im Grunde ein halbierter V4 und dennoch viel mehr.

(Bild: Ingo Gach)

Lesezeit: 11 Min.
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  • Ingo Gach
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Die BMW R 1250 GS ist schuld. Das mit Abstand meistverkaufte Modell in Deutschland erweckt den Eindruck, dass sich die Motorradfahrer ganz besonders für großvolumige Bikes interessieren würden. Doch die teure Boxer-Enduro von BMW bildet sowohl leistungs- als auch preismäßig eher die Ausnahme, wie die Neuzulassungen beweisen: Aktuell (Stand: Juli 2021) stammen 18 der meistgekauften Motorräder unter den Top 25 aus der günstigen Mittel- oder Einsteigerklasse, nur sieben haben einen Liter Hubraum oder mehr.

Auch wenn die Hersteller gerne ihre extrem starken Modelle ins Rampenlicht schieben, machen viel weniger Motorradfahrer den PS-Kult mit als oft angenommen wird. Bereits seit etlichen Jahren liegen die Mittelklassemodelle Yamaha MT-07 mit 73 und Kawasaki Z 650 (Test) mit 68 PS immer unter den Top 4 und mit der KTM 390 Duke (Test) und Honda CMX 500 Rebel tummeln sich sogar zwei Vertreterinnen der einsteigerfreundlichen 48-PS-Klasse beständig unter den besten Zehn. Auch die handliche Supermoto KTM 690 SMC R (Test) mit 75 PS ist seit Jahren dort zu finden. Dass die mit 125 PS schon recht kräftige Kawasaki Z 900 (Test) sich ebenfalls seit langem im Spitzenfeld der Neuzulassungen hält, liegt an ihrem günstigen Preis.

Der Trend zu Motorrädern mit gemäßigter Leistung zeichnet sich schon länger ab. Sportmotorräder verkaufen sich bereits seit rund einem Jahrzehnt kaum noch. Hier spielt neben der unkomfortablen Sitzposition und der eingeschränkten Alltagstauglichkeit sicher auch der PS-Overkill eine entscheidende Rolle. Zwar bringen die einschlägigen Hersteller aus Japan, Italien und Deutschland aus Prestigegründen regelmäßig ein neues bzw. überarbeitetes Superbike auf den Markt, das in der WM um Siege kämpfen soll, aber die Modelle mit inzwischen über 200 PS finden sich unter den Neuzulassungen nur noch in homöopathischen Dosen.

Motorrad-Mittelklasse I (7 Bilder)

Die Mittelklasse liegt voll im Trend, in ihr werden inzwischen die meisten Modelle in Deutschland verkauft. Die brandneue Triumph Trident 660 schaffte es für den Monat Juli auf Platz 5 der Neuzulassungen. Sie bietet ein attraktives Design und gute Fahrleistungen für wenig Geld.
(Bild: Ingo Gach)

Die früher sehr beliebten 600er-Supersportler sind längst der teuren Materialschlacht zum Opfer gefallen, ihre Preise hatten sich wegen der aufwendigen Technik zu sehr den deutlich stärkeren 1000er-Superbikes angenähert. Der Fokus bei den leistungsstarken Motorrädern hat sich inzwischen von den Sportbikes mit Vollverkleidung zu den Naked Bikes mit aufrechter Sitzhaltung verlagert.

Extrem leistungsstarke Motorräder werden vielleicht immer noch bewundert, aber von wenigen Ausnahmen abgesehen kaum mehr gekauft. Viele Fahrer sind zu der Einsicht gelangt, dass Motorräder mit mehr als 150 PS im Straßenverkehr keine Vorteile bieten, sondern den Piloten oft überfordern. Deshalb ist zum Beispiel die jüngst von Suzuki wiederaufgelegte 190-PS-Hayabusa ein Flop mit Ansage. Der auf Aerodynamik getrimmte, vollverschalte Kraftprotz sorgte 1999 für Furore, weil es das erste Serienmotorrad war, das 300 km/h schaffte. Heute sind solche High-Speed-Exzesse auf überfüllten Autobahnen und bei zunehmend kritischen Umweltdebatten nicht mehr angesagt.

Stattdessen bieten nun einige Marken zwar vollverkleidete, aber nicht sonderlich kräftige Sportmotorräder mit einfacher und günstiger Technik in der Mittelklasse an, wie die Honda CBR 650 R mit 95 PS, die Kawasaki Ninja 650 mit 68 PS und kürzlich die Yamaha R7 mit 73 PS. Die Hersteller versuchen die Kunden über einen niedrigen Preis wieder zu den Sportbikes zu locken.

Im wirklichen Leben bieten die vermeintlich schwachen Mittelklasse-Motorräder einige Vorteile gegenüber den PS-Protzen. Bei meinem Test der BMW S 1000 R im Frühsommer habe ich das 199 Kilogramm leichte Naked Bike als gelungenes Motorrad gelobt, wegen ihres exzellenten semi-aktivem Fahrwerks und ihrer ausgeprägten Handlichkeit (letzteres Phänomen wurde durch die optionalen, sehr teuren Kohlefaserfelgen verstärkt). Der aus dem Superbike BMW S 1000 RR (Test) stammende Reihenvierzylinder (dort leistet er mit Shift-Cam-Technologie satte 212 PS) produziert in der R-Version 165 PS bei 11.000/min. Ich bin aber während des Tests auf hunderten von Kilometern nie auch nur in die Nähe des Drehzahlbegrenzers bei 11.800/min gekommen. Selbst bei sportlicher Fahrweise ließ sich die Leistung einfach nicht ausnutzen.

Schon im ersten Gang erreicht der kaum gezähmte Rennmotor bei Maximaldrehzahl 121  km/h. Mit fünfstelligen Drehzahlen unterwegs zu sein ist aber stressig für den Fahrer, abgesehen davon säuft so ein 1000-cm3-Hochleistungsaggregat dann wie ein Matrose auf Landgang. Die S 1000 R erreicht Tempo 255, was wegen des fehlenden Windschutzes für den Piloten einen enormen Druck auf den Körper bedeutet und den Kopf pendeln lässt. Genau deshalb ergeben solche Geschwindigkeiten bei einem Naked Bike weder auf der Autobahn noch auf der Rennstrecke – wo dieser Motor eigentlich hingehört – einen Sinn.

Wer regelmäßig auf dem Rundkurs unterwegs ist, kauft sich einen richtigen Sportler mit Vollverkleidung und Stummellenker. Der favorisierte Einsatzbereich eines Naked Bikes ist daher die Landstraße. Dort bereitet die S 1000 R zwar viel Freude, doch im sechsten Gang dreht der Motor bei Tempo 100 rund 4500/min – da wären bei Vollgas maximal rund 65 PS zu holen (um die 100 km/h zu halten, braucht es gerade mal etwas über 10 bei einer verkleideten und bis zu 18 bei einer unverkleideten Maschine). Die restlichen 100 Pferdestärken zu aktivieren würde mich in Sekundenbruchteilen in illegale Geschwindigkeitsbereiche katapultieren. Auf der Straße ist entweder der Motor unter- oder der Fahrer überfordert.