Missing Link: Chinas Strategie des digitalen Wohlstands und die Digitalkonzerne

Für die von der Staatsführung betriebene Industrialisierung der Informationstechnologie sollten die Digitalkonzerne eine entscheidende Rolle spielen.​

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(Bild: muhammadtoqeer/Shutterstock.com)

Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Timo Daum
Inhaltsverzeichnis

Chinesinnen und Chinesen kaufen ein, was das Zeug hält. Sie tun das bevorzugt online, und bezahlt wird per Mobiltelefon. Über eine Milliarde Menschen in China sind online, 85 Prozent von ihnen benutzen regelmäßig mobile Zahlungsmethoden – gegenüber 43 Prozent in den USA und etwa 20 Prozent in der Europäischen Union. Über die Hälfte des weltweiten Online-Handels wird in China abgewickelt. Kaum irgendwo sonst ist das Smartphone so tief im Alltag verwurzelt wie in China, Online-Shopping und digitale Kommunikationsdienste prägen den Alltag. In der Corona-Pandemie hat sich diese Entwicklung nochmals verstärkt, Konsum ist zum "sozialen Erlebnis" geworden, beschreibt es der Kenner der chinesischen Internetwirtschaft Winston Ma.

Die Volksrepublik ist ein Land der digital natives. Über 400 Millionen Menschen zählen zur Generation der zwischen 1981 und 1996 Geborenen sogenannten Millennials. Sie sind mit digitalen Technologien groß geworden, sie profitierten von Chinas wirtschaftlicher Entwicklung der letzten Jahrzehnte. Als "Fundament der sozialen Stabilität im politischen Bereich, Hauptfaktor der Stimulierung der Binnennachfrage und des Konsums und Hauptakteur einer kulturellen Modernisierung" sieht sie der chinesische Soziologe Sun Liping. Ausgerechnet die Kommunistische Partei hat die Volksrepublik in eine konsumistische Nation verwandelt.1

Die Infrastrukturen in China können mit dieser Dynamik Schritt halten. China ist weltweit führend beim Ausbau des Mobilfunkstandards 5G, der Staatskonzern Huawei gilt dabei als Technologieführer. In der digitalen Sphäre genießen die meisten Chinesen mittlerweile einen infrastrukturellen Wohlstand, der seinesgleichen sucht.

"Es handelt sich um die zweitgrößte Volkswirtschaft, deren Städte und öffentliche Verkehrsnetze Weltklasse sind", stellte US-Außenminister David Blinken im Mai 2022 fest. Für die US-Regierung ein beunruhigendes Szenario: "China ist die Heimat einiger der weltweit größten Technologieunternehmen und strebt danach, die Technologien und Industrien der Zukunft zu dominieren."

China ist im Digitalen ein großer Sprung nach vorn gelungen: Sein Digitalsektor ist zum Role Model und zur systemischen Herausforderung für den Westen geworden. Wie kam es zu dieser Entwicklung, in deren Verlauf der größte Digitalsektor der Welt entstand?

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Die Weichen für diese Entwicklung wurden vor etwa 15 Jahren in Peking gestellt. Denn in der weltweiten Finanzkrise wurde auch Chinas Rolle als "Werkbank der Welt" in einem Wachstumsmodell, das auf der Ausbeutung billiger Arbeitskraft und Export beruhte, zunehmend problematisch. Hatte es doch zu einem niedrigen Konsumniveau, zu einem starken Einkommensgefälle zwischen Stadt und Land und zu struktureller Arbeitslosigkeit geführt.

Als Rezept dagegen propagierte der damalige Staats- und Parteichef Hu Jintao den Aufbau einer heimischen E-Commerce-Industrie. Die chinesische Führung begann daraufhin, die Digitalwirtschaft und insbesondere nutzerorientierte Plattformen stärker zu fördern. Um diese digitale Sphäre zu erschaffen, waren enorme Investitionen nötig. In einer Veröffentlichung aus dem Jahre 2013 bestimmte der Staatsrat "hochwertige Informationsprodukte für den Konsum" zum wesentlichen Wachstumsmotor. Die Angehörigen der digitalen versierten Mittelschicht sollten zu Protagonisten dieses informatischen Konsums werden.2

Die Expertin für chinesische Regulierungsfragen Angela Huyue Zhang fasst diesen Prozess wie folgt zusammen: "Die KPCh sah in der Entwicklung der Plattformökonomie einen neuen Wachstumsmotor und eine Gelegenheit, die chinesische Wirtschaft von einem investitionsorientierten zu einem konsumorientierten Modell umzugestalten."3 Der Plan der Führung ging auf: Der Wert der digitalen Wirtschaft Chinas erreichte 2021 rund 6,7 Billionen US-Dollar, was knapp 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) des Landes entspricht.

"Missing Link"

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Eine wichtige Rolle in dieser spezifisch chinesischen informatischen Industrialisierung sollte der heimischen Digitalwirtschaft zufallen. Ende der 1990er-Jahre entstanden sie zunächst als Kopien der US-amerikanischen Originale aus dem Silicon Valley – vorrangig in den für sozio-ökonomische Experimente angelegten Sonderwirtschaftszonen.

Tencent, Alibaba und Baidu kennt heute die ganze Welt, und Huawei hat sich neben Apple und Samsung zum bedeutendsten Smartphone-Hersteller entwickelt. Anfangs waren sie noch kleine Start-ups und noch längst nicht die Riesenkonzerne von heute. Mittlerweile sind sie zu einem ganz eigenen Digitalsektor chinesischer Prägung geworden, der viel stärker abhängig von und verwoben mit der chinesischen Digitalpolitik und den Zielen der Partei- und Staatsführung.

1998 entstand das in Shenzhen ansässige Tencent, das Chinas meistverwendete Super-App WeChat verantwortet. Alibaba wurde 1999 vom berühmten Unternehmer Jack Ma gegründet und ist heute das größte E-Commerce-Unternehmen in China, es ist heute vor allem für seine Social-Media-Mega-App WeChat bekannt, die alle Bereiche des chinesischen Alltags dominiert. Das in Peking ansässige Baidu wiederum bietet seit 2000 Such-, Werbe- und Navigationsdienste für die chinesische Internetgemeinde an.

Von den zehn umsatzstärksten Internetfirmen kommen mittlerweile fünf aus den USA und fünf aus China. Neben den US-amerikanischen Konzernen Amazon, Alphabet (Google), Meta (Facebook), Netflix und PayPal sind es neben den bereits erwähnten Tech-Unternehmen Alibaba und Tencent die E-Commerce-Firmen JD.com und Meituan sowie ByteDance, das die weltweit erfolgreiche Kurzvideo-Plattform TikTok verantwortet.

Auch im Ausland sind die chinesischen Digitalkonzerne zunehmend erfolgreich. Vier der fünf Anfang des Jahres in den USA am häufigsten heruntergeladen Apps wurden von chinesischen Unternehmen entwickelt und veröffentlicht: Temu, TikTok, CapCut und Shein – kein Wunder, dass in Washington und im Silicon Valley die Alarmglocken schrillen!

Noch sind die Nutzerzahlen der US-Konzerne weit höher, auch sind diese auf der ganzen Welt weiter verbreitet. Auch der Wert der Datenprofile von Nutzerinnen und Nutzern ist in den Ländern, in denen die US-Konkurrenz operiert, meist höher – und chinesische Digitalkonzerne sind bei Weitem nicht so international ausgerichtet. Dafür haben sie Vorteile auf asiatischen Märkten.

Innerhalb von nur anderthalb Jahrzehnten ist ein zweites digital-wirtschaftliches Zentrum neben dem Silicon Valley entstanden. Im Digitalen manifestiert sich zudem eindrücklich der "Vorteil des zweiten Spiels". So nennt der indisch-amerikanische Spezialist für Geopolitik und Globalisierung Parag Khanna das Phänomen, dass nachholend modernisierende Länder bestimmte technologische Entwicklungen später als andere in Angriff nehmen und diesen anfänglichen Nachteil in einen Vorteil ummünzen können, weil sie zwei technologische Stufen auf einmal nehmen können: "Mobilfunk kommt vor Festnetz, digitales Banking vor Geldautomaten, Cloud Computing vor Desktops", erläutert er.4

Ohne staatliche Planung und Förderung wäre aus der weltgrößten Digital-Ökonomie wohl nichts geworden, die planwirtschaftliche Tradition aus der Mao-Zeit kam bei Chinas informatischer Industrialisierung gelegen. Im mittlerweile 14. Fünfjahresplan der Volksrepublik werden langfristige Vorgaben gemacht, wie "Technologie und Innovation, neue Urbanisierung und grüne Entwicklung", um das Ziel einer "grundlegenden sozialistischen Modernisierung" bis 2035 zu erreichen.

Die chinesische Entwicklungspolitik speist sich noch aus einer anderen historischen Quelle: der chinesischen Experimentierkultur. China kann diesbezüglich auf eine große Tradition zurückblicken, man denke nur an die (katastrophale) Politik des "Großen Sprungs nach vorn" unter Mao Tsetung. Auch die riesigen Sonderwirtschaftszonen, die im Zuge Deng Xiaopings pragmatischer Liberalisierung eingerichtet und zur Wiege der heutigen digitalen Sphäre wurden, können als gesellschaftliche Großexperimente gelten – mit mehr Erfolg und weniger katastrophalen Auswirkungen.

Im Westen wundern sich viele, wie das sein kann. Stellvertretend sei Daron Acemoğlu angeführt, Professor für Wirtschaftswissenschaften am Massachusetts Institute of Technology (MIT): "Noch nie ist es einem undemokratischen Regime gelungen, ein so innovationsgetriebenes Wachstum zu erzielen wie in China." Die Harvard-Politikwissenschaftlerin Angela Zhang hingegen bescheinigt der chinesischen Politik, diese sei grundsätzlich "flexibel und pragmatisch, änder[e] sich ständig und pass[e] sich an nationale und internationale Umgebungen an."5

Ausgerechnet die Kommunistische Partei Chinas, die seit 70 Jahren ununterbrochen an der Macht ist, hat mit hoher Flexibilität eine kapitalistische Entwicklung im Digitalsektor anfachen können, die ihresgleichen sucht. Mit der Entwicklung eines digital developmentalism mit chinesischen Charakteristika hat Chinas Partei- und Staatsführung für eine rasante Verbreitung digitalen Wohlstands gesorgt.

Die Partei- und Staatsführung förderte die heimische Digitalwirtschaft, profitierte von der Zufriedenheit ihrer immensen Nutzer:innen-Basis und übernimmt sogar deren Wortwahl. So betonte Präsident Xi Jinping in seiner Rede anlässlich der Verabschiedung des 14. Fünfjahresplans im März 2021 die Bedeutung des digitalen Chinas: Das Land müsse "schneller daran arbeiten, eine digitale Gesellschaft, eine digitale Regierung und ein gesundes digitales Ökosystem zu entwickeln".

Quellen/Verweise:

  1. Liping Sun: "Common Spirit and the Rise of Middle Strata". In: Lü Ye, 12 (2009)
  2. Winston Ma: China's Mobile Economy. Wiley, Hoboken 2017.
  3. Angela Huyue Zhang: "Agility over Stability. China’s Great Reversal in Regulating the Platform Economy". In: Asian eJournal, No. 28, Juli 2021.
  4. Parag Khanna: Unsere asiatische Zukunft. Rowohlt, Berlin 2019.
  5. Angela Huyue Zhang: "Agility over Stability. China’s Great Reversal in Regulating the Platform Economy". In: Asian eJournal, No. 28, Juli 2021.

(vbr)