Missing Link: "Das Internet ist im Prinzip kaputt"

Mehr Komplexität, mehr Web statt Netz und immer weniger Marktplayer, all das hat das Internet verändert. Kann die technische Standardisierung etwas dagegen tun?

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 206 Kommentare lesen
Abstract,Futuristic,Cyberspace,With,A,Hacked,Array,Of,Binary,Data,

(Bild: Shutterstock)

Lesezeit: 19 Min.
Von
  • Monika Ermert
Inhaltsverzeichnis

"Die Internet Engineering Task Force (IETF) ist keine klassische Standardisierungsorganisation, obwohl sie viele Standards produziert", schrieb 1993 Gary Scott Malkin in einem Dokument, das er mit "Das Tao der IETF" übertitelte. Fast drei Jahrzehnte später debattiert die IETF jetzt, ob dieses Grundsatzdokument veraltet ist – ein historisches Relikt. Ist die Debatte auch Ausdruck eines Kulturwandels der Standardisierungsorganisation für das Internet?

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

"Da alle Teilnehmer (an IETF Konferenzen, d. Red.) Namensschilder tragen müssen, müssen sie auch Hemden oder Blusen tragen. Auch Hosen oder Röcke werden dringend empfohlen. Im Ernst sind Neulinge immer wieder peinlich berührt, wenn sie am Montag früh im Anzug erscheinen, um festzustellen, dass alle anderen hier T-Shirts, Jeans (Shorts, wenn es das Wetter erlaubt) und Sandalen anhaben."

Es sind solche Formulierungen, die das Tao der IETF bekannt und die Organisation für ihre etwas eigenwillige Philosophie berüchtigt gemacht haben. Geschrieben wurde das Tao-Dokument, wie Autor Malkin in RFC 1392 vom Januar 1993 erklärt, weil in den 90ern bei jedem der dreimal jährlich stattfindenden Treffen der TCP/IP Standardisierer fast vierzig Prozent Neulinge ankamen. Im Tao, im Original Bibel des Taoismus und von manchen Übersetzern auch als hintersinnige politische Kritik am herrschenden Konfuzianismus interpretiert, brachte man in Fall der IETF den Neulingen Wege und Weisen des IETF-Prozesses nahe.

Von der Offenheit des Standardisierungsprozesses ist da die Rede, jeder kann als individueller Entwickler seine technischen Lösungen für "drängende Probleme für Betrieb und Technik des Internet" vorschlagen. Die Bedeutsamkeit des Arbeitens via öffentlicher Mailinglisten – lange vor Corona-Reisebeschränkungen – wird unterstrichen; auch der Hinweis, dass es eine schlechte Idee ist, Mailinglisten oder Meetings zur Werbung für das eigene Unternehmen zu nutzen, ist enthalten: "die IETF ist keine Trade-Show".

Bis zum Jahr 2000 wuchs die IETF auf die stolze Zahl von 3.000 Teilnehmern. Philosophie und Prozesse wuchsen mit und wuchsen weiter, auch nachdem die Dotcom-Blase geplatzt war. Aus dem taoistisches Vorbild nacheifernden knappen 18-Seiten-Dokument sind 50 Seiten geworden und manchen lustigen Verweis auf den Striptease des notorischen Anzugträgers Vint Cerf zum 20. Geburtstag der IETF hat man längst bereinigt.

Verschoben haben sich die Rollen der IETF-Gremien, etwa das Verhältnis von Internet Architecture Board und Internet Engieering Steering Committee, hinzugefügt wurden auch Kapitel zum Verhältnis der IETF mit der "Außenwelt". Sogar die Presse wurde mit einem How-to-Abschnitt bedacht und davor gewarnt, mit Sensationshunger bei der IETF einzutreffen. Eingefügt wurden schließlich auch Kulturtechniken wie das Humming. Mit diesem "Summen" bringen die Teilnehmer von IETF-Arbeitsgruppen den Grad von Gefallen oder Missfallen an einem technischen Vorschlag zum Ausdruck. Er ist ein Maß für den "rough consensus", den Konsens, mit dem alle leben können.

Trotzdem geht es dem Tao nun an den Kragen. Beim jüngsten Treffen der IETF in Philadelphia stellte der derzeitige IETF-Vorsitzende, Lars Eggert, die Frage, wie man mit dem unhandlichen Dokument künftig verfahren soll. Zwar durchlaufen Update-Versionen der IETF-Bibel nicht mehr den regulären Peer-Review-Prozess. Ein kleines Redaktionsteam pflegt vielmehr die Änderungen der IETF-Struktur mehr oder weniger regelmäßig auf einer dedizierten Webseite ein.

Aber auch das kommt nicht mehr hinterher, was natürlich auch illustriert, wie stark sich die IETF strukturell in den vergangenen Jahren geändert hat – so hat sie mittlerweile ein eigenes rechtsfähiges Dach, ein Unternehmen mit beschränkter Haftung, die IETF Administration LLC. Die IETF ist seriös geworden.

Zudem, so beklagt Eggert, ist es ganz schön verwirrend, dass neben den inzwischen per Webseite veröffentlichten Aktualisierungen die alten Request for Comment-Dokumente fortbestehen, vom ursprünglichen RFC 1931 bis zu RFC 4677.