Missing Link: Wem gehört die Wahrheit? Vom Ars Electronica Festival 2023. Teil 1

Das Ars-Electronica-Motto lautet "Wem gehört die Wahrheit?". Den Kuratoren ist auch wichtig, wie sich menschliche Zivilisation mit Natur vertragen kann. Teil 1.

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Lesezeit: 15 Min.
Von
  • Johannes Schacht
Inhaltsverzeichnis

2023 ist das Jahr, in dem sich die KI mit großem Getöse der allgemeinen Öffentlichkeit vorgestellt hat. Kaum ein Massenmedium konnte der Versuchung widerstehen, einen Artikel oder Kommentar in Teilen von ChatGPT schreiben zu lassen. Auch die Wissenschaftler waren überrascht, ob der hohen Qualität der Chat-Bot-Texte. Die Änderungen in Wirtschaft und Gesellschaft durch KI-Techniken werden langsam sichtbar, nachdem der Medienhype niedersinkt. Wir waren also gespannt, wie sich diese Veränderung niederschlagen würde in dem Ars Electronica-Festival für Medienkunst mit seinem Ziel "Kunst, Technologie und Gesellschaft" zusammenzubringen.

Die erste Herausforderung lag darin, die Teile des Festivals zu finden, die sich mit "Who Owns the Truth?" befassen würden. Das hat weniger mit den Räumlichkeiten zu tun. Nachdem das Festival in den vergangenen drei Jahren seinen Ort an der Johannes-Kepler-Universität gefunden hatte, durfte es diesmal wieder ("wirklich zum letzten Mal") in die PostCity einziehen, dem verlassenen Brief- und Paketverteilzentrum, das dem Bahnhof angegliedert ist. Tatsächlich war das Festival diesmal weniger gedrängt und vollgepackt mit Ausstellungsobjekten als in vergangenen Jahren, was die Orientierung vereinfachte. Auch dass die Cyberarts-Ausstellung sich auf dem Veranstaltungsgelände befand und nicht mehr im OK (Offenes Kulturhaus Oberösterreich) sorgte für kurze Wege.

Was aber stetig wächst, ist nicht nur die Zahl der Besucher und Besucherinnen (88.000) und der Aktiven (1542), sondern die Zahl der Organisationen, die sich dem Event angliedern. Die Ars Electronica ist zu einem Magnet geworden, zu dem sich immer mehr Institutionen hingezogen fühlen. Da sind vor allem die vielen Initiativen der EU-Kommission, die im Laufe der Jahre immer mehr Raum eingenommen haben, und die Veranstaltung mitprägen. Da ist die CIFO (Cisneros Fontanals Art Foundation), die seit 2022 die Medienkunst aufstrebender lateinamerikanischer Künstler und Künstlerinnen mit Preisen und Ausstellungen fördert und im Lentos Kunstmuseum vorstellt. Da ist die Campus Exhibition, an der in diesem Jahr Universitäten aus über 50 Ländern teilnahmen. Da ist die Anton Bruckner Privatuniversität für Musik, Schauspiel und Tanz, die in ihren Räumen einen ganzen Thementag gestaltete. Da sind die Gardens, eine Medienkunstpräsentation von Städten aus aller Welt, eine Idee, die während der Pandemie geboren wurde, als die Ars das Festival an den Orten ihrer Partner stattfinden ließ und virtuell vermittelte.

Oder da ist die Ausstellung im oberösterreichischen Kunstverein mit den dynamisch generierten dreidimensionalen Bildelementen des Computergrafikers Markus Riebe (AT). Oder das Francisco Carolinum, mit einer überaus sehenswerten Schau zur Medienkunst, die mit elf Positionen etwa beleuchtet, wie sich KI zum Menschen verhält, darunter Werke von Holly Herndon/Mat Dryhurst, die im letzten Jahr den STARTS Prize 2022 verliehen bekamen. Oder auch das Animation-Festival, ein dreitägiges Festival im Festival mit dem angegliederten, Expanded Animation Symposium, beides angesiedelt in den Räumlichkeiten des Ars Electronica Centers auf der anderen Donauseite.

Holly Herndon / Mat Dryhurst

(Bild: Dorothea Cremer-Schacht)

Dazu kommen Orte in der Stadt, die traditionell bespielt werden, wie zum Beispiel der architektonisch beeindruckende Mariendom, diesmal mit einer Ballett-Performance, entworfen von der taiwanesischen Künstlerin Yen-Tzu Chang. Der Tanz mit projizierten Bildern und beweglichen Bildschirmen gewinnt in der dunklen, großen Kathedrale eine mystische Ausstrahlung und die Tänzerin scheint oft mehr eine von äußeren Kräften bewegte Puppe zu sein, als ein aus eigener Kraft bewegter Mensch. Das evoziert vielfältige Bilder für die Betrachter. Dass es eigentlich um Erinnerungen und kulturelle Sichtweisen geht, die von Fledermäusen symbolisiert werden, erschließt sich erst aus der Beschreibung.

Shao-Tung Tseng im Mariendom

(Bild: Dorothea Cremer-Schacht)

Jimmy Wales, Gründer Wikipedia

(Bild: Dorothea Cremer-Schacht)

Weiter sind die großen Veranstaltungen zu nennen: das Opening-Event, diesmal mit einem Beitrag von Jimmy Wales, Gründer der Wikipedia. Wales stellte die Frage, ob ChatGPT eines Tages Wikipedia-Artikel schreiben könne, Antwort: nein. Die Frage, ob die Menschen in Zukunft lieber ChatGPT konsultieren werden, statt in der Wikipedia nachzulesen, stellte Wales nicht, aber er sieht die KI durchaus als intelligentes Front-End, als bessere Suche für die Wikipedia gewissermaßen. Bleibt zu hoffen, dass dieses Front-End weniger halluziniert als die aktuellen KI-Chatbots. Schwerpunkt dieses Abends war die Vorstellung der neu gegründeten wissenschaftlichen Einrichtung, des "Institut of Digital Sciences of Austria", kurz IDSA, dessen Standort in Linz vor allem der Ars Electronica zu verdanken ist. 75 Studenten und Studentinnen und mehr als 30 Fellows aus allen Teilen der Welt begeben sich fortan auf die Suche nach kreativen, interdisziplinären Lösungsansätzen, um den Herausforderungen des Anthropozäns zu begegnen.

Die Preisverleihungs-Gala spiegelt wider, wie sich die Ars Electronica ausgeweitet hat. Der Reigen begann mit den seit bald zehn Jahren verliehenen S+T+ARTS-Preisen der EU. Diesmal wurde unter anderem Richard Mosse geehrt für seinen sehenswerten, auf einer 20 Meter breiten Leinwand vorgeführten Film "Broken Spectre", der die Umweltkatastrophe aufzeigt, die sich entlang des 4.000 Kilometer langen Trans-Amazonian Highway ereignet. Dann kamen weitere Kooperationen durch die EU, so der neue, gut dotierte Citizen Science-Preis. Aber auch die österreichischen Ministerien erweiterten in den letzten Jahren ihre Unterstützung, beispielsweise mit dem Preis für "Klasse! Lernen", der Schüler und Lehrer für ihren Einsatz digitaler Tools auszeichnet oder dem "State of the ART(ist) Award" für Künstler und Künstlerinnen in existenziellen Lebenssituationen oder dem "Digital Humanity Award", der diesjährig eine Künstlergruppe auszeichnete, die die Repräsentanz afrikanischer Sprachen in maschinellen Übersetzungs- und Kommunikationsprogrammen verbessern möchte. In Erinnerung an den 2016 verstorbenen japanischen Pionier der elektronischen Musik Isao Tomita wird biennal ein nach ihm benannter Preis verliehen. Er ging an Robin Fox (AU), ein Künstler, der auf dem Opening-Event einen überzeugenden Ausweis seiner Laser-Kunst darbot. Erst nach diesen Preisen stellte der künstlerische Leiter der Ars Electronica, Gerfried Stocker, die Preisträger der vier Goldenen Nicas des Cyberart-Wettbewerbs vor, das ehemalige Herzstück der Gala, nun nur noch eine Preisgruppe unter vielen.

Broken Spectre

(Bild: Richard Mosse, Jack Shainman and Carlier Gebauer)

Die große Konzertnacht gestaltete in diesem Jahr wieder das Bruckner-Orchester unter der Leitung von Markus Poschner mit Scherzi aus verschiedenen Symphonien. Kontrapunktiert wurde das Orchester von "Klangräumen" der isländischen Komponistin und Kontrabassistin Bára Gísladóttir und einer Performance des österreichischen Rappers Def Ill.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Es gibt immer wieder kleine Veranstaltungen, die sich zu entdecken lohnen, wie das "Uncanny Valley" von der Theatergruppe Rimini-Protokoll (DE). Das Uncanny Valley ist die Beobachtung, dass die Akzeptanz von Robotern und Avataren mit mehr Menschenähnlichkeit zunächst wächst, aber ab einem gewissen Punkt stark abnimmt und in Ablehnung umschlägt.