Missing Link: Wer wird Millionär? Über das Leben von Kapitalrenditen

Die jüngere Generation im Westen wendet sich verstärkt Investitionen zu. Beliebtes Ziel: vollkommene finanzielle Unabhängigkeit. (Wie) Geht das?

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(Bild: Andrey_Popov/Shutterstock.com)

Lesezeit: 16 Min.
Von
  • Clemens Gleich
Inhaltsverzeichnis

Willkommen, Mitmensch des gereiften Kapitalismus! Es gibt seit Ewigkeiten die aktuell als neu recycelte, nachvollziehbare Idee, so viel zu sparen, dass man nie wieder arbeiten muss. In den USA versammelt sich die entsprechende Szene unter dem Akronym "FIRE": Financial Independence, Retire Early.

Dazu müssen die Kapitalerträge aus Anlagen die Lebenshaltungskosten für die Restlebensdauer minus Kapitalaufbrauchzeit übersteigen. Wie groß die Anlage sein muss, hängt also davon ab, wie luxuriös das Leben sein soll. Kleinere Bedürfnisse brauchen eine kleinere Kapitalbasis. Diesen Umstand fassen die Gurus dieser Szene im Satz zusammen "das kann im Prinzip jeder schaffen".

Hier haben wir eine Krux des Kapitalismus, die uns im Laufe dieses Artikels öfter begegnen wird: Im Prinzip kann jeder vom Tellerwäscher zum Millionär werden, ja. In der Praxis wird es aber nur einer, der dem Rest dann obendrein Ratgeber darüber verkauft, um noch reicher zu werden. Wahrscheinlich war es ungeschickt, so einen Dämpfer schon gleich am Anfang des Artikels rauszuhauen, aber wir sind ja hier unter Kapitalisten und Zeit ist Geld. Dröseln wir die Zahlen auf, die den theoretischen amerikanischen Traum zu einer praktischen Unwahrscheinlichkeit machen! Die Daten hierzu nehme ich vom deutschen Amt für Statistik (Destatis) und den EU-Pendants. Alle Euro-Beträge sind (so nicht anders angegeben) in Euro zum Wert Februar 2023.

Gehen wir von ganz geringen Bedürfnissen aus, an der Grenze zum Abrutschen in die Armut. Als armutsgefährdet gilt nach EU-Statistik, wer weniger als 60 % des Medianeinkommens zur Verfügung hat. Für eine allein lebende Person in Deutschland sind das ziemlich genau 15.000 Euro netto im Jahr. FIRE-Ratgeber gehen von einer Kapitalrendite von 8 % auf entsprechend breit gestreute Aktien (dazu gleich mehr) aus, weil das die historische Gesamtmarkt-Renditerate war. Dann würden 187.500 Euro reichen, um jedes Jahr 15.000 Euro abheben zu können, ohne dass sich der Anlagebetrag verringert. Hier reibt sich der junge Mensch das Fäustlein ("das schaffe ich!"), während der ältere Mensch bereits erlebt hat, dass er sich von Zahlen nichts kaufen kann. Hielte die aktuelle Inflation zum Beispiel an, wäre das Geld in 7 Jahren noch die Hälfte wert. Der Betrag auf dem Konto wäre zwar derselbe, würde jedoch nur noch halb so viel Essen kaufen (wahrscheinlich viel weniger, weil die Teuerungsrate bei Lebensmitteln aktuell mehr als die doppelte Inflationsrate beträgt).

Die Inflationsrate muss also mit hinein in die Berechnung. Historisch lag sie zwischen 2 und 3 Prozent in stabilen Zeiten. Bleiben noch 8 - 3 = 5 % übrig von meiner Rendite. Da die aktuelle Inflation 10 % beträgt, heißt das, ich verliere bei 8 % Rendite netto an Geldwert? Ja. Mit -2 % realer Rendite ist ein Projekt "von Rendite leben" zum Scheitern verurteilt. Doch gehen wir hier einmal von langfristig betrachtet historischer Inflation aus (3 %), die wir durch stete Investitionen in dieser Höhe ausgleichen. Dann brauchen wir schon 300.000 Euro Kapital, um von 5 % Rendite an der Armutsgefahrgrenze zu leben. Das klingt in einer Industrienation für Fachkräfte schaffbar. Doch halt! Weitere Tücken des Geldes tun sich auf: Bei regelmäßiger Entnahme fixer Geldbeträge aus einer Aktienanlage ergibt sich der ungünstige Effekt, dass zu Zeiten geringer Kurswerte jeweils mehr Anteile veräußert werden, während zu guten Kursen weniger Anteile veräußert werden müssen. Was beim Sparplan positive Auswirkungen hat, verkehrt sich bei regelmäßiger Entnahme ins Gegenteil. Dazu kommt die "Volatilität" des Marktes, das Ausmaß der Schwankungen über die Zeit. Also planen die Gurus 1 % Volatilitätsauswirkungen ein, 1 % für die negativen Auswirkungen regelmäßiger Entnahmen und 1 bis 2 % Puffer. Bleiben noch höchstens 2 % nutzbare Rendite für Langfristprojekte.

Schon mit dieser optimistischen Rechnung liegt das benötigte Kapital bereits bei einer Dreiviertelmillion heutiger Euros (750.000 €). Das ist nun wahrlich kein Pappenstiel mehr. Ich halte die Aussage "das kann jeder schaffen" deshalb für leicht wohlstandsverwahrlost. Wer im Bereich 15.000 Euro/Jahr netto lebt, der hat es viel schwerer, Geld zu sparen als Wohlhabendere, weil der Anteil an lebensnotwendigen Ausgaben höher wird, je ärmer du bist. Für Wohlhabende ist es weniger wichtig, wie teuer der Sprit oder der Strom ist, denn das sind nie einschneidende Posten ihres Alltags. Wem es dagegen gerade so passt am Monatsende, der muss für vergleichbare Sparraten Opfer bringen. Eine gesunde Ernährung kostet das Fünffache einer Ernährung, die einfach nur ausreichend Kalorien bereitstellt. Wie viel ist Gesundheit wert? Diese Frage müssen sich nur Arme stellen. Wohlstand heißt, dass Gesundheit an den ersten Platz rücken darf, wo sie hingehört.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Gehen wir einmal von realistischeren, längst nicht Ferrari-tauglichen 20.000 Euro Entnahme im Jahr aus. Dann brauchen Sie ab eine Million Euro Anlagenwert. Damit sind wir bei einer banalen, bekannten Weisheit: Sparsam und geschickt wirtschaftende Millionäre müssen nicht unbedingt arbeiten. Das wussten wir allerdings schon ohne FIRE. Ein Millionenvermögen kann im Kapitalismus theoretisch jeder anhäufen. In der Praxis schafft es aber zwischen Windeln, Energierechnungen und Mieterhöhung fast niemand. Deutschland liegt bei den Medianvermögen deutlich unter dem europäischen Durchschnitt. Unser Wohlstand um den Median herum kommt aus den im globalen Vergleich gesehen hohen Einkommen, die in den hohen Kosten dann zum großen Teil verpuffen, bevor gespart werden kann. Weil das moderne Märchen vom Tellerwäscher so gern erzählt wird, folgt hier die andere, nicht so märchenhafte Seite der Medaille.

Im Märchenbuch steht: Wer sich ganz doll anstrengt, der schafft es auch. Dass Pflegeberufe selbst bei unendlicher Anstrengung nicht reich machen, na ja: Statt Altenpflege hättest du ja auch IT lernen können, meint das Märchenbuch. Oder noch besser: Top-Manager mit Spitzengehalt. Warum werden nicht alle BWL-Abschlüssler Spitzenmanager? Weil diese lukrativen Stellen nicht jedem Menschen (gleiche Eignung vorausgesetzt) in gleichem Maße offenstehen. Die Maße sind im Gegenteil sehr ungleich: In den 100 größten Unternehmen Deutschlands stammten in einer Untersuchung von Michael Hartmann über 80 Prozent der Top-Manager aus den obersten 3 Prozent des Wohlstands. Dem Spiegel gegenüber sagte Hartmann daher "zum Manager wird man geboren". Nur eine Handvoll CEOs stammen aus der Arbeiterschicht.

Also kann zwar theoretisch jeder gute BWL-Auskenner Top-Manager werden. Aber in der Praxis werden es halt die, deren Eltern und Seilschaften schon in diesem Bereich tätig sind. Das ist wichtig zu wissen, weil im Märchen immer steht, dass es im Kapitalismus hauptsächlich auf Leistung ankomme. Dann leistet man was und wundert sich. Die Erbstrukturen sind noch stabiler, als man sich das wünschen würde, und in den Genuss relevanter Erbschaften oder Schenkungen kommen in Deutschland nur jene etwa 15 % der Bevölkerung, die (Sie ahnen es) sowieso schon besser gestellt sind.

Diese Ungleichheiten kreiden wir üblicherweise dem Wirtschaftssystem an. Man muss allerdings sagen, dass sich der deutsche Staat hier nicht gerade mit Ruhm bekleckert, denn er verteilt gern Geld von unten nach oben um. Teure Energiepreise schneiden in den Geldbeutel der Ärmeren, während Wohlhabendere von großzügigen (von der Allgemeinheit finanzierten) Förderungen für Photovoltaik, Heizungen und Elektroautos profitieren. Das schadet der nationalen Stimmung, weil sich Reichtum schon von alleine ansammelt und für den Sozialstaat daher normalerweise umgekehrt von reich nach arm umverteilt wird. Es ist aber nicht zu erkennen, dass trotz aller Bekenntnisse hier politisch demnächst etwas Anderes kommt. Kostenlose Leih-Elektroautos für die unteren Einkommen? Nichts in Planung. Kurzum: An den Umständen wird sich so schnell nichts ändern. Wir können uns da nur hindurchlavieren.