Was Organoide aus Fruchtwasser über Embryonen verraten

Eine neue Technik ermöglicht es Wissenschaftlern, an Föten zu forschen, ohne diese tatsächlich zu benötigen. Das hilft bei der Früherkennung.

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Schwangere Person

(Bild: Ground Picture / Shutterstock)

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Cassandra Willyard

Wenn ein Fötus im Mutterleib heranwächst, gibt er Zellen in das ihn umgebende Fruchtwasser ab. Wie sich nun zeigt, können diese Zellen verwendet werden, um sogenannte Organoide zu züchten, die einige der wichtigsten Eigenschaften menschlicher Organe aufweisen – in diesem Fall Nieren, Dünndarm und Lunge des kleinen Menschen. Die dreidimensionalen Strukturen könnten den Ärzten mehr Informationen über die Entwicklung der Organe liefern und damit möglicherweise die pränatale Diagnose von Krankheiten wie Spina bifida verbessern.

Das Forschungsprojekt des University College London ist nicht das erste seiner Art, bei dem Organoide aus fötalen Zellen hergestellt werden. Andere Gruppen haben jedoch echtes Fötalgewebe verwendet, nicht das Material aus dem Fruchtwasser. Eine Schädigung des Fötus wird bei dem neuen Ansatz vermieden.

"Das gesamte Konzept ist wirklich bahnbrechend", meint Oren Pleniceanu, Stammzellenbiologe und Leiter des Nierenforschungszentrums am Sheba Medical Center und der Universität Tel-Aviv, der ebenfalls an Organoiden aus Fruchtwasser gearbeitet hat. Die Möglichkeit, fötale Zellen aus dem Fruchtwasser zu gewinnen, "ist wie eine freie Biopsie", sagt er. Er weist jedoch darauf hin, dass die Beschreibung der vorhandenen Zellen noch verbessert werden muss. "Es ist nicht so einfach zu definieren, um welche Zellen es sich handelt", sagt er.

Forscher wissen schon seit Jahrzehnten, dass das Fruchtwasser fötale Zellen enthält. Dies ermöglicht es Ärzten, Krankheiten wie das Down-Syndrom und die Sichelzellenkrankheit vor der Geburt durch eine Fruchtwasseruntersuchung zu diagnostizieren, bei der mit einer Nadel eine Probe des Fruchtwassers entnommen wird. Die überwiegende Mehrzahl dieser Zellen, 95 Prozent oder mehr, sind tote Zellen, die vom Fötus abgestoßen werden, sagt Mattia Gerli, Stammzellenbiologe am University College London und Autor der Studie. Neu dabei: Die Forscher konzentrierten sich auf den viel kleineren Anteil lebender Zellen im Fruchtwasser.

Zunächst untersuchten sie, welche Arten von Zellen überhaupt vorhanden waren, indem sie ihre Eigenschaften kartierten und dann mithilfe einer Einzelzellsequenzierung feststellten, woher sie stammten. Anschließend platzierte das Team drei Arten von Vorläuferzellen – Niere, Lunge und Dünndarm – in einer 3D-Zuchtkultur, um zu sehen, ob sie Organoide bilden würden. "Wir nehmen die Zellen einfach so, wie sie sind, und geben sie auf einen Geltropfen. Das ist eine sehr einfache Methode", so Paolo De Coppi, Kinderchirurg am University College London und am Great Ormond Street Hospital, bei der Vorstellung der Forschungsarbeit.

Und das funktionierte auch. Die Organoide wuchsen und entwickelten Merkmale des Gewebes, aus dem die Zellen stammten. Innerhalb weniger Wochen erhielten die Lungen-Organoide zum Beispiel bewegliche, haarähnliche Strukturen, die Zilien genannt werden und jenen im Inneren der Lunge ähneln.

Als Kinderchirurg hat De Coppi oft mit angeborenen Fehlbildungen zu tun. Ärzte können diese Defekte mit bildgebenden Verfahren erkennen, aber sie haben keine echte Möglichkeit, ihren Schweregrad oder ihre Auswirkungen auf die Organfunktion zu beurteilen. Um herauszufinden, ob die Lungen-Organoide diese Informationen liefern können, sammelte das Team Zellen von Föten mit einer seltenen Erkrankung, der kongenitalen Zwerchfellhernie (CDH). Diese Föten haben eine Freistelle in ihrem Zwerchfell, durch die Organe aus dem Bauchraum in die Brusthöhle drängen und die Lunge zusammendrücken können. "Wenn die Lunge zusammengedrückt wird, entwickelt sie sich nicht so, wie sie sollte", sagt De Coppi. "Deshalb überleben nur 70 Prozent dieser Föten."

Das Team verglich Organoide, die aus CDH-Föten gezüchtet wurden, mit Organoiden, die von gesunden Föten stammen. Anfänglich sahen beide Organoide gleich aus. Doch als die Forscher sie dazu brachten, sich so zu differenzieren, dass sie den Teil der Lunge, der der Luftröhre am nächsten liegt, sowie die tieferen Bereiche der Lunge nachbildeten, sahen sie einige auffällige Unterschiede. Sowohl die gesunden als auch die CDH-Organoide entwickelten zwar Flimmerhärchen, aber deren Muster war bei den CDH-Organoiden anders. Sie hatten mehr Mühe, sich zu differenzieren. Die CDH-Organoide produzierten auch weniger Surfactant, eine Substanz, die die Luftsäcke in der Lunge bei ihrer Funktion unterstützt.

CDH ist grundsätzlich behandelbar: Chirurgen setzen dazu einen Ballon in die Luftröhre des Fötus ein, um die Lunge zu zwingen, sich gegen die eindringenden Organe zu drücken. Als die Forscher Lungen-Organoide verglichen, die aus Fruchtwasserzellen vor und nach der Ballonbehandlung gezüchtet wurden, stellten sie fest, dass die behandelten Organoide eher wie normale Lungenorganoide wuchsen. Auch ihre Genexpression deutete darauf hin, dass sie besser entwickelt waren. Diese Ergebnisse weisen auf zwei mögliche Anwendungen des neuen Verfahrens hin. Das Einsetzen des Ballons erfordert eine Operation am Fötus, und die Ärzte haben keine gute Methode, um herauszufinden, welche Föten davon profitieren und welche nicht. Mithilfe dieser personalisierten Organoide könnten sie feststellen, wie unterentwickelt die Lungen sind, sodass sie eine fundiertere Entscheidung treffen können. Bei den Föten, die sich dem Verfahren unterziehen, könnten die Organoide schließlich den Ärzten Aufschluss darüber geben, ob das Verfahren funktioniert hat.

Auch andere Wissenschaftler kommen weiter. In einer Vorabveröffentlichung aus dem Oktober 2023 berichten Pleniceanu und seine Kollegen, dass es ihnen ebenfalls gelungen ist, solche Zellen zu Lungen- und Nieren-Organoiden zu züchten. Doch anstatt ihre Organoide in einem allgemeinen Nährmedium zu züchten, entwickeln sie Medien, die das Wachstum spezifischer Organoide fördern sollen – ein Medium könnte etwa das Wachstum von Nieren-Organoiden fördern, ein anderes die Entwicklung von Lungen-Organoiden.

Organoide sind allerdings nicht, wie ihr Name vermuten lässt, funktionierende Miniaturorgane. Aber diese Ansammlungen von Zellen bilden einen Teil der Struktur und Komplexität von Organen nach. Daher können sie einen einzigartigen Einblick in die menschliche Entwicklung gewähren. Und da sie dieselben genetischen Mutationen wie der Fötus tragen, können sie den Ärzten auch die Entwicklung dieses speziellen Menschen besser darstellen.

Organoide sind bisher allerdings noch nicht reif für den klinischen Einsatz. Einsatzmöglichkeiten sind aber bald vorstellbar. Wenn bei einer Ultraschalluntersuchung eine Anomalie festgestellt wird, könnten die Organoide die zugrunde liegende Ursache in Echtzeit aufdecken und den Ärzten vielleicht Hinweise auf Therapien geben, die noch während der Entwicklung der Organe durchgeführt werden könnten. "Man könnte sogar vor der Geburt eingreifen, was ziemlich erstaunlich ist", sagt Pleniceanu. Außerdem lassen sich Anomalien mit der Technik besser verstehen, die nicht auf eine genetische Störung zurückzuführen sind. Auch die Erforschung der Auswirkungen von Umwelteinflüssen auf die Entwicklung ist denkbar. Kinderchirurg De Coppi weist außerdem darauf hin, dass die pharmazeutische Industrie damit begonnen hat, aus adulten Zellen gewonnene Organoide zu nutzen, um neue Therapien zu finden. Jetzt bestehe die Möglichkeit, diese technologischen Entwicklungen auf die fötale Entwicklung zu übertragen, sagt er. "Denn zum ersten Mal können wir tatsächlich auf den Fötus zugreifen, ohne ihn zu berühren."

(jle)