Sechs Meilensteine, wie Künstliche Intelligenz die Politik verändern könnte

IT-Sicherheitsexperte Bruce Schneier und Datenwissenschaftler Nathan E. Sanders definieren Meilensteine auf dem Weg zu einer KI-gestützten Politik.

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US-Flagge vor dem Kapitol

(Bild: I'm friday/Shutterstock.com)

Lesezeit: 14 Min.
Von
  • Bruce Schneier
  • Nathan E. Sanders
Inhaltsverzeichnis

ChatGPT wurde vor gerade einmal neun Monaten veröffentlicht – und wir lernen immer noch, wie es unser tägliches Leben, unsere Karrieren und sogar unsere Selbstverwaltungssysteme beeinflussen wird. Aber wenn es darum geht, wie Künstliche (KI) unsere Demokratie bedrohen könnte, fehlt es in der öffentlichen Diskussion oft an Vorstellungskraft.

Man spricht über die Gefahr von Kampagnen, die Gegner mit gefälschten Bildern (oder gefälschten Audio- oder Videodateien) angreifen, weil wir bereits jahrzehntelange Erfahrung im Umgang mit gefälschten Bildern haben. Wir halten Ausschau nach ausländischen Regierungen, die Fehlinformationen verbreiten, weil wir durch die US-Präsidentschaftswahlen 2016 traumatisiert wurden.


Nathan E. Sanders ist Datenwissenschaftler und Mitarbeiter des Berkman Klein Center an der Harvard University. Bruce Schneier ist Sicherheitstechnologe, Fellow und Dozent an der Harvard Kennedy School.


Und wir machen uns Sorgen, dass KI-generierte Meinungen die politischen Präferenzen echter Menschen verdrängen, weil wir seit Jahrzehnten beobachten, dass politisches "Astroturfing" zunimmt (auf Deutsch etwa: künstliche Graswurzelbewegung). Das ist die Nutzung gefälschter Online-Konten, um den Anschein zu erwecken, eine bestimmte Politik zu unterstützen.

Bedrohungen dieser Art erscheinen dringend und beunruhigend, weil sie auffällig sind. Wir wissen, worauf wir achten müssen, und wir können uns ihre Auswirkungen leicht vorstellen. Tatsächlich wird die Zukunft noch viel interessanter sein. Auch einige der erstaunlichsten potenziellen KI-Auswirkungen auf die Politik werden nicht zwingend schlecht sein. Wir können einige ziemlich gerade Linien zwischen den aktuellen Fähigkeiten der KI-Werkzeuge und ihren Auswirkungen in der realen Welt ziehen, die nach den Maßstäben des heutigen öffentlichen Verständnisses wirklich verblüffend erscheinen.

Vor diesem Hintergrund schlagen wir sechs Meilensteine vor, die eine neue Ära der demokratischen, von KI angetriebenen Politik einläuten werden. Alle scheinen erreichbar zu sein – vielleicht nicht mit der heutigen Technologie und dem heutigen Stand der KI-Einführung, aber sehr wahrscheinlich in naher Zukunft.

Gute Benchmarks sollten aussagekräftig sein und bedeutende Ergebnisse mit realen Konsequenzen darstellen. Sie sollten plausibel sein; sie müssen in absehbarer Zeit realistisch erreichbar sein. Und wir sollten in der Lage sein zu erkennen, wann sie erreicht wurden.

Die Befürchtung, dass KI eine Wahl beeinflussen könnte, wird höchstwahrscheinlich den Test der Beobachtbarkeit nicht bestehen. Zwar ist das Risiko der Wahlmanipulation durch die robotergestützte Förderung der Interessen eines Kandidaten oder einer Partei eine legitime Bedrohung, dennoch sind Wahlen äußerst komplex. Genauso wie die Debatte darüber, wie und warum Donald Trump 2016 die Präsidentschaft gewonnen hat, immer noch tobt, ist es unwahrscheinlich, dass wir ein überraschendes Wahlergebnis eindeutig auf eine bestimmte KI-Intervention zurückführen können.

Denken wir weiter in die Zukunft: Könnte ein KI-Kandidat jemals in ein Amt gewählt werden? In der Welt spekulativer Fiktion, etwa Fernsehserien von "Twilight Zone" bis "Black Mirror", wächst das Interesse an der Möglichkeit, dass ein KI-Kandidat oder ein technologisch unterstützter Kandidat gewinnt, der nicht im herkömmlichen Sinne wählbar ist. In einer Zeit, in der Deepfake-Videos die Ansichten und Handlungen menschlicher Kandidaten falsch darstellen können und menschliche Politiker sich von KI-Avataren oder sogar Robotern vertreten lassen können, ist es für einen KI-Kandidaten durchaus möglich, die Medienpräsenz eines Politikers zu imitieren.

Virtuelle Politiker haben bereits bei nationalen Wahlen Stimmen erhalten, zum Beispiel 2017 in Russland. Aber das hält dem Plausibilitätstest nicht stand. Die Wählerschaft und das juristische Establishment werden wahrscheinlich immer mehr Automatisierung und KI-basierte Unterstützung akzeptieren, aber das Zeitalter nicht-menschlicher Mandatsträger ist noch weit entfernt.

Beginnen wir mit einigen Meilensteinen, die bereits an der Schwelle zur Realität stehen. Dabei handelt es sich um Errungenschaften, die im Rahmen der technischen Möglichkeiten bestehender KI-Technologien liegen und für die die Grundlagen bereits geschaffen wurden.

  • Ein Gesetzgeber oder eine Behörde nimmt einen KI-generierten und im Namen einer KI eingereichten Stellungnahme oder Kommentar an

Wir haben bereits gesehen, wie KI Gesetze verfasst hat, wenn auch unter der Leitung menschlicher Nutzer und vorgelegt von menschlichen Gesetzgebern. Nachdem in Massachusetts und im US-Repräsentantenhaus erste von KI verfasste Gesetzesentwürfe eingebracht wurden, gab es in vielen größeren Gesetzgebungsorganen "den ersten von einer KI verfassten Gesetzesentwurf", "die Verwendung von ChatGPT zur Erstellung von Ausschussbemerkungen" oder "die erste von KI verfasste Rede im Plenum".

Viele dieser Gesetzentwürfe und Reden sind eher Tricks als ernst gemeint, und sie wurden eher kritisiert als beachtet. Sie sind kurz, haben triviale politische Inhalte oder wurden von menschlichen Gesetzgebern stark bearbeitet oder durch hochspezifische Prompts für große sprachmodellbasierte KI-Tools wie ChatGPT gelenkt.

Ein interessanter Meilenstein in dieser Richtung wird die Akzeptanz von Stellungnahmen zu Gesetzen oder von Kommentaren sein durch eine Behörde sein, die vollständig von einer KI verfasst wurden. Sicherlich wird ein großer Teil des Schreibens in Zukunft durch KI-Hilfstechnologien unterstützt – und davon profitieren. Um diesen Meilenstein nicht zu trivialisieren, müssen wir also den zweiten Satz hinzufügen: "eingereicht unter dem Namen einer KI".

Was diesen Meilenstein bedeutsam machen würde, ist die Einreichung unter dem eigenen Namen der KI, also die Anerkennung der KI als legitime Perspektive in der öffentlichen Debatte durch ein leitendes Organ. Ungeachtet der öffentlichen Begeisterung für die KI wird es nicht lange dauern, bis dieser Fall eintritt. Die New York Times hat einen Brief unter dem Namen ChatGPT veröffentlicht (als Antwort auf einen von uns verfassten Meinungsartikel), und Gesetzgeber wenden sich bereits an KI, um hochkarätige Eröffnungsreden bei Ausschussanhörungen zu schreiben.

  • Die Verabschiedung des ersten neuen Änderungsantrags zu einem von KI verfassten Gesetzentwurf

Über die Anhörung hinaus gibt es einen unmittelbaren Weg, auf dem KI-generierte Politik zu Gesetzen werden könnte: die Mikro-Gesetzgebung. Dabei geht es um Änderungen an bestehenden Gesetzen oder Gesetzesentwürfen, die auf bestimmte Zielgruppen abgestimmt sind.

Mikro-Gesetzgebungen werden häufig im Verborgenen umgesetzt. Sie können sogar anonym im Rahmen einer Flut anderer Änderungsanträge eingereicht werden, um den beabsichtigten Nutznießer zu verschleiern. Aus diesem Grund kann Mikrogesetzgebung oft schlecht für die Gesellschaft sein, und sie ist reif für die Ausbeutung durch generative KI – die sonst einer strengen Prüfung durch eine auf KI-Risiken achtende Politik unterzogen würde.

  • KI-generierte politische Botschaften übertreffen in Umfragetests die Empfehlungen von Wahlkampfberatern

Einige der wichtigsten kurzfristigen KI-Auswirkungen auf die Politik werden weitgehend hinter verschlossenen Türen stattfinden. Wie alle anderen werden sich auch politische Wahlkämpfer und Meinungsforscher an KI wenden, um ihre Arbeit zu erleichtern. Wir beobachten bereits, dass Wahlkämpfer auf KI-generierte Bilder zurückgreifen, um soziale Inhalte zu erstellen, und dass Meinungsforscher die Ergebnisse mithilfe von KI-generierten Befragten simulieren.

Der nächste Schritt in dieser Entwicklung ist die Entwicklung politischer Botschaften durch KI. Ein Hauptbestandteil des Werkzeugkastens von Wahlkämpfern ist heute die Umfrage zum Testen von Botschaften: Dabei werden alternative Formulierungen einer Position mit einem Publikum getestet, um zu sehen, welche mehr Aufmerksamkeit und eine positivere Reaktion erzeugen.

Ebenso wie erfahrene politische Meinungsforscher aufgrund ihrer Beobachtungen vergangener Kampagnen und ihres Eindrucks vom Stand der öffentlichen Debatte wirksame Messaging-Strategien recht gut vorhersehen kann, kann dies auch eine KI, die mit unzähligen öffentlichen Diskursen, Wahlkampfrhetorik und politischer Berichterstattung geschult wurde.