Atomkraft: 10 Jahre Super-GAU in Fukushima und Deutschlands Kernkraftwendewende

Seite 5: Fukushima heute

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Fischer im Hafen von Soma in der Präfektur Fukushima.

(Bild: dpa / Everett Kennedy Brown)

"Zehn Jahre sind vergangen, und ich lebe noch", erzählt Akiko Iwasaki und hält inne. An jenem 11. März 2011 war sie nur knapp dem Tode entronnen, als das Tohoku-Beben ihr Gasthaus an einer Meeresbucht erzittern ließ und der Tsunami "wie ein wilder Drache" auf die Küste traf. Ganze Ortschaften, Schulen, Friedhöfe und riesige Agrarflächen versanken in den Wassermassen. Der Super-GAU im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi wurde zum Sinnbild der "3/11" genannten Dreifachkatastrophe.

Heute, zehn Jahre danach, betont die Regierung die Erfolge beim Wiederaufbau Tohokus und versichert, dass in der Atomruine alles "unter Kontrolle" sei. Zudem habe Japan, das seit jeher mit der tagtäglichen Gefahr durch Erdbeben konfrontiert ist, als Lehre aus der Katastrophe von "3/11" die weltweit schärfsten Standards für das Anfahren von Atommeilern eingeführt, beteuert die Regierung.

Heute seien alle Lebensmittel aus Fukushima, die auf den Markt kommen, vollkommen sicher, erklärte der Gouverneur von Fukushima, Masao Uchibori am Vorabend des 10. Jahrestages der Katastrophe und verweist auf Japans strenge Sicherheitsstandards für Lebensmittel.

Diese Botschaften will Japans Regierung der Welt auch zu den Olympischen Spielen im Sommer vermitteln. Dass viele Menschen in den Katastrophengebieten Tohokus jedoch auch zehn Jahre danach unter den Folgen der traumatischen Erlebnisse von "3/11" leiden, gerät im Rest des asiatischen Inselreiches dabei zunehmend in Vergessenheit.

Auch sie habe lange nur ihr eigenes Schicksal gesehen, sagt Iwasaki. Mit Schulden hat sie ihr vom Tsunami beschädigtes Gasthaus wieder aufgebaut. Dass viele andere Opfer im benachbarten Fukushima anders als sie entwurzelt wurden, sei ihr lange nicht bewusst gewesen. "Wir müssen zusammenhalten und nach vorne schauen", macht sie sich Mut.

"Tohoku hat sich nie wirklich vollständig erholt", erklärt Politikprofessor Koichi Nakano von der Sophia University Tokio der dpa. Die Bevölkerung ganzer Städte wurde umgesiedelt, was zum Verfall von örtlichen Gemeinschaften und zu Vereinsamung führte. Zwar hat der Staat mit einem gigantischen Aufwand weite Gebiete dekontaminieren lassen und die meisten Evakuierungsanordnungen inzwischen aufgehoben. Dennoch geht die Abwanderung, die es schon vor der Katastrophe im Zuge der Überalterung gab, weiter. "Viele Menschen fühlen sich zurückgelassen", erklärt Nakano.

Dass es auch in der Atomruine weiter gewaltige Probleme gibt, zeigte sich erst dieser Tage wieder, als in Folge eines erneut starken Erdbebens vor Fukushima die Kühlwasserstände in den drei zerstörten Reaktoren 1 bis 3 abfielen, was auf neue Schäden hindeutete. Zudem kam dabei ans Tageslicht, dass der Betreiberkonzern Tokyo Electric Power Company (Tepco) bereits seit einigen Monaten von zwei defekten Seismometern in einem der drei Reaktoren wusste – aber sie nicht reparieren ließ.

Der Lagerplatz für das radioaktiv belastete Kühlwasser wird knapp. Schon jetzt lagert Tepco 1,2 Millionen Tonnen kontaminiertes Wasser in 1043 Tanks. Davon enthalten 958 bereits gefiltertes Wasser, das aber noch Tritium enthält, und in 71 Tanks befindet sich hochradioaktives Wasser mit Cäsium und Strontium. Weil die zerstörten Reaktoren weiter gekühlt werden müssen und zusätzlich Regen- und Grundwasser in die Anlage eindringen, kommen täglich rund 170 Tonnen Kühlwasser hinzu. Japans Regierung will das Tritiumwasser ins Meer leiten. Dabei könnte es vor dem Ablassen ins Meer so weit verdünnt werden, dass die Aktivität unter 1500 Becquerel pro Liter sinkt. Eine Alternative wäre, das Wasser zu verdampfen.

Täglich arbeiten am AKW Fukushima rund 4000 Menschen beispielsweise daran, den Rückbau der zerstörten Reaktoren vorzubereiten und die Freisetzung von radioaktiven Stoffen weiter zu begrenzen, schildert die Gesellschaft für Reaktorsicherheit. Aus den Blöcken 1 bis 3 muss das sogenannte Corium geborgen werden, eine Mischung aus geschmolzenen Materialien, die bei einer Kernschmelze entsteht. Sie besteht aus Kernbrennstoff und den Hüllrohren der einzelnen Brennstäbe, Steuerstäben, den Werkstoffen der betroffenen Teile des Reaktors sowie ihren chemischen Reaktionsprodukten mit Luft und Wasser.

Wird der Reaktordruckbehälter (RDB) vom Corium durchbrochen, kommt zu der Masse noch geschmolzener Beton vom Boden des Reaktorgebäudes dazu. Im Gegensatz zu den Brennelementen, die nach wie vor in den Lagerbecken ruhen, ist das Corium in unterschiedlichem Umfang aus den RDB ausgetreten und in die jeweils darunter liegenden Teile der Reaktorgebäude gelangt.

Vermuteter Ort des Coriums in den Blöcken 1 bis 3.

(Bild: Tepco)

"Es ist sehr schwierig, Aussagen darüber zu treffen, wo genau sich das Corium im Reaktorgebäude verteilt hat", erläutert die GRS. Die 1533 Brennelemente aus dem Lagerbecken von Block 4 konnten hingegen bis Ende Dezember 2014 und bis Ende Februar 2021 alle 566 Brennelemente aus Block 3 geborgen werden. In Block 1 werden seit Januar 2018 Trümmer entfernt. In Block 2 laufen die Vorbereitungen, um eine Brennelemente-Entlademaschine zu errichten. Nach jetzigem Planungsstand sollen die letzten Brennelemente auf der Anlage im Laufe des Jahres 2031 geborgen werden.

Um mit dem Rückbau beginnen zu können, musste das Gelände erst aufgeräumt werden, es war völlig verwüstet. Gebäude waren teilweise zerstört, Strommasten abgeknickt und weite Teile des Anlagengeländes um die Reaktorgebäude herum mit Schlamm und Trümmern bedeckt. Die Strahlung behinderte die Aufräumarbeiten stark, das Gelände konnte nur mit Schutzausrüstung betreten werden, teilweise wurden ferngesteuerte Roboter eingesetzt.

Derweil müssen weiterhin Zehntausende Bewohner Fukushimas in Behelfsunterkünften leben. Ärzte beklagen eine andauernd erhöhte Rate an Depressionen, Selbstmorden sowie Posttraumatischen Belastungsstörungen unter Menschen in den radioaktiv verstrahlten Gebieten. "Es gibt eine direkte Korrelation zwischen dem Ausmaß der radioaktiven Belastung am jeweiligen Wohnort in der Präfektur Fukushima und dem psychosozialen Stress, dem die Bevölkerung ausgesetzt wurde", erklärt Angelika Claußen, Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und Europavorsitzende der Ärzteorganisation IPPNW.

Sie wirft der japanischen Atomindustrie und dem Staat zudem vor, unabhängige Forschung zu den Folgen des Super-GAUS zu unterdrücken. Bislang sei lediglich Schilddrüsenkrebs systematisch untersucht worden. Besonders betroffen in Fukushima seien Kinder, die im Jahr der Kernschmelzen noch im Mutterleib waren. Noch heute gibt es Mütter, die aus Sorge um ihre Kinder kein Leitungswasser trinken. Viele sind in Netzwerken organisiert. Tausende flohen aus Fukushima, wo die Landwirte weiter massiv darunter leiden, dass viele Menschen trotz aller Aufklärungsbemühungen einen Bogen um ihre Produkte machen.

Auf die gesundheitlichen Folgen in Folge der Evakuierungen wie Stress, Herzprobleme und andere Krankheiten geht eine Studie ein, die das UN-Strahlenschutzkomitee (UNSCEAR) am 9. März 2021 anlässlich des zehnten Jahrestags der Katastrophe veröffentlicht. Es gebe aber in der japanischen Bevölkerung keine statistisch nachweisbare Schäden durch Verstrahlung. Die radioaktive Belastung erhöhe das Krebsrisiko der Bevölkerung nicht in einem Ausmaß, das eindeutig über normalen Werten liege.

Die Unsicherheiten und Ängste wegen der Gefahren der Strahlung zerstörten dennoch auch viele Ehen. Während vor allem Frauen und Mütter noch heute Angst haben und den Verlautbarungen des Staates und mancher Medien nicht trauen, treibt Männer vor allem die Sorge vor Arbeitslosigkeit um. Es gibt zudem Angst vor gesellschaftlicher Stigmatisierung und Diskriminierung – ein Phänomen, das in Japans Gesellschaft immer wieder auftritt, wenn Menschen Gesundheitsgefahren ausgesetzt sind. So auch jetzt wieder in der Corona-Pandemie.

Doch all diese Probleme sind im Rest des Landes zunehmend in Vergessenheit geraten. Das betrifft auch die vielen anonymen Arbeiter, die zur Dekontaminierung angeheuert wurden – darunter auch Obdachlose. Kritiker sprechen von Ausbeutung, doch niemand mache sich Gedanken über diese Menschen, die wie Aussätzige behandelt würden.

"Je weniger die Medien über die Probleme der Lokalbevölkerung berichten, desto mehr verschwindet das aus dem Bewusstsein der Menschen", erklärt Barbara Holthus, stellvertretende Direktorin des Deutschen Instituts für Japanstudien (DIJ) in Tokio. Zugleich aber habe die Katastrophe viele soziale Bewegungen aufkommen lassen. Dazu gehören all jene Freiwilligen, die sich noch heute vor allem um die seelische Betreuung der Menschen kümmern, die entwurzelt wurden.

Während die Katastrophe in Fukushima in Deutschland den Atomausstieg bewirkte, blieben in Japan grundlegende gesellschaftliche Veränderungen aus. Der kurz nach der Katastrophe an die Macht gekommene rechtskonservative Ministerpräsident Shinzo Abe habe in all den vergangenen Jahren ein politisches Klima in Japan geschaffen, "das einem potenziellen Ruck durch die Gesellschaft komplett entgegensteht", erklärt die Japanologin Gabriele Vogt. Abe wollte Japan "zurückholen" zu alter Stärke, ganz dem Image entsprechend, das die Welt von Japan hat. Auch diesem Ziel dienen die Olympischen Spiele.

Abe gelang es laut Beobachtern, dass die Opposition zersplittert und schwach da steht, die staatstragenden Medien noch zurückhaltender als zuvor schon geworden sind, und gerade viele Jüngere eine grundlegend apolitische Haltung an den Tag legen. Von den Massendemonstrationen bald nach der Katastrophe ist heute nichts mehr zu sehen. Zwar will die konservative Regierung unter Abes Nachfolger Yoshihide Suga die Treibhausgasemissionen bis 2050 auf Null reduzieren. Dennoch hält sie weiter an der Atomenergie fest. Auch die Kungelei zwischen Regierung und Atomindustrie – Kritiker sprechen vom "Atomdorf", zu dem viele auch Japans staatstragende Medien zählen – besteht weiter, wie der zum Zeitpunkt des Super-GAUs regierende Ex-Premier Naoto Kan betont.

Noch während seiner Amtszeit war Kan von einem Befürworter zu einem entschiedenen Gegner der Atomkraft geworden. Damit steht er nicht allein. In Umfragen befürwortet die Mehrheit der Japaner heute eine Abkehr von der Atomenergie, was auch beim lokalen Widerstand gegen das Wiederanfahren von Reaktoren zum Ausdruck kommt. Unter der Oberfläche "köchelt es – auf kleiner Flamme", sagt Expertin Holthus. Indessen wird mit der endgültigen Stilllegung des AKW Fukushima Daiichi für 2051 gerechnet.