Neue Studie zu "Nächtlicher Gehirnwäsche" schließt Forschungslücke

Das Gehirn spült im Schlaf Abfallstoffe mit rhythmischen Pulsen aus den Zell-Zwischenräumen. So verhindert es die Entstehung von Krankheiten wie Alzheimer.

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Eine Frauenhand greift nach einem im Raum schwebenden Gebilde aus leuchtenden Linien und Punkten, das ein menschliches Gehirn darstellt

(Bild: ARMMY PICCA/Shutterstock.com)

Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Veronika Szentpetery-Kessler

Wenn wir nachts Schlafen, ist unser Gehirn immer noch aktiv. Nicht mit derselben Intensität wie tagsüber, denn unser Bewusstsein ruht aus gutem Grund: Wir sollen uns erholen. Dafür muss das Gehirn unter anderem saubermachen, ganz wie es Putzteams in einem Bürogebäude tun, nachdem die Mitarbeiter nach Hause gegangen sind. Das Denkorgan spült Abfallstoffe und Giftstoffe, die beim intensiven Tagesbetrieb anfallen, regelrecht aus den Zellzwischenräumen heraus und in das Abwassersystem des Körpers.

Jetzt haben Wissenschaftler um Jonathan Kipnis von der Washington University School of Medicine in St. Louis, Missouri, in Tierversuchen mit Mäusen aufgeklärt, wie das Gehirn den Spülvorgang antreibt. Ihre Ergebnisse veröffentlichten sie Ende Februar im Fachjournal "Nature".

Das Gehirn braucht viele Nährstoffe für seine energie-intensiven Aufgaben. In komplexen Netzwerken steuert es kognitive Prozesse wie Denken, Planen und Problemlösen. Dazu plant und initiiert es Bewegungen und verarbeitet Sinneseindrücke sowie Gefühle. Entsprechend fällt viel Abfall an, wie Proteinreste und Botenstoffe. Liegen bleiben darf der Abfall nicht, sonst würde sich das Denkorgan selbst vergiften. "Es ist von entscheidender Bedeutung, dass das Gehirn Stoffwechselabfälle entsorgt, die sich [sonst] ansammeln und zu neurodegenerativen Erkrankungen beitragen können", sagt Kipnis.

Lange war unklar, wie der Abfall-Abtransport funktioniert, da das Gehirn kein Abwassersystem wie das Lymphsystem des restlichen Körpers zu besitzen schien. 2013 beschrieben Wissenschaftler um Maiken Nedergaard von der University of Rochester Medical Center im US-Bundesstaat New York, dass das Gehirn ein ähnliches, aber eigenes Abwassersystem besitzt und nannten es "glymphatisches System". Der Name ist die Kurzversion von "Glia-abhängiger lymphatischer Transport", weil darin spezialisierte Gliazellen Kanäle zwischen den Nervenzellen und um Gehirnblutgefäße herum bilden.

Diese Kanäle sind mit Liquor gefüllt, derselben Flüssigkeit, die das Gehirn auch von außen umgibt. Für den Spülvorgang feuern die Gliazellen koordiniert elektrische Signale ab und versetzen auf diese Weise die Gehirnflüssigkeit rhythmisch in Bewegung, so dass Wellen entstehen. Um zu belegen, dass tatsächlich das wellenförmige Pulsieren den Abfalltransport bewirkt, schaltete das Forscherteam bestimmte Hirnregionen bei den Versuchstieren ab, so dass die Neuronen in diesen Regionen keine rhythmischen Wellen mehr erzeugten. Ohne diese Wellen konnte frischer Liquor nicht durch die ausgeschalteten Hirnregionen fließen und eingeschlossene Abfälle konnten das Hirngewebe nicht verlassen.

Das Wellenmuster ändert sich während der Schlafzyklen offenbar. Auffallend sei, so schreiben die Studienautoren, dass höhere Gehirnwellen mit größerer Amplitude die Flüssigkeit mit mehr Kraft bewegen. "Wir denken, dass der Reinigungsprozess des Gehirns dem Geschirrspülen ähnelt", erklärt die Erstautorin und Neurobiologin Jiang-Xie. "Man beginnt zum Beispiel mit großen, langsamen, rhythmischen Wischbewegungen, um lösliche Abfallstoffe zu entfernen, die auf den Teller gespritzt sind." Danach schrubbe man kleine Areale mit schnelleren Bewegungen, um besonders klebrige Speisereste auf dem Teller zu entfernen. Es könne also sein, dass auch das Gehirn die Reinigungsintensität an die Art und Menge der Abfallstoffe anpasst.

Schlafforscher Albrecht Vorster vom Universitätsklinikum Bern lobt die Publikation. Seit der erstmaligen Beschreibung des glymphatischen System hätten mehrere Forschungsgruppen Hinweise auf die "nächtliche Gehirnwäsche" gefunden, trotzdem sei die Theorie nicht ganz unumstritten gewesen, da wichtige Details noch nicht geklärt waren. Die Forschung von der University of Washington schließe nun eine dieser Lücken und beschreibe einen möglichen Mechanismus für die Reinigung.

"Wichtig ist: Diese rhythmischen Bewegungen waren unabhängig vom eigentlichen Feuerungsmuster der Nervenzellen", haben also eine eigene Aufgabe. Zudem fanden sie fast ausschließlich im Tiefschlaf statt. Schlaf versetzt das Gehirn also sozusagen wieder in einen Normalzustand, was wichtig sei, den "eine Reihe von Krankheiten steht im Zusammenhang mit liegengebliebenen Proteinresten, die in der Folge Verklumpungen bilden können", sagt Vorster.

Zu diesen auch "dirty brain diseases", auf Deutsch "schmutzige Gehirnerkrankungen", genannte Leiden gehörten etwa die Alzheimersche Krankheit und die Parkinson-Krankheit. "Das Risiko zu erkranken steigt nach Jahren mit massiv zu kurzem Schlaf oder gestörten Schlaf – etwa durch Schnarchen mit Atemaussetzern oder Schichtarbeit. Ausreichender, regelmäßiger, erholsamer Schlaf ohne Schnarchen schützt uns somit vor Gehirnerkrankungen."

Vorster selbst beschreibt die Bedeutung von Schlaf gerne so: "Gut schlafen ist wie Waschen, Schneiden, Legen für das Gehirn." Mit Waschen meint er das Durchspülen der Zellzwischenräume. Dadurch versuche das Gehirn, Erkrankungen wie Alzheimer und andere neurodegenerative Krankheiten abzuwehren.

Das Schneiden steht für das Zurückschneiden nicht mehr benötigter Verbindungen zwischen Nervenzellen. Dann können sie am nächsten Tag – ähnlich wie ein Baum, der nach einem Schnitt besser ausschlägt – neu austreiben und neue Kontakte knüpfen. Beim Legen schließlich ordnet, verknüpft und festigt das Gehirn Tageserlebnisse und Informationen.

(jle)