Missing Link: New Digital Deal - Kunst (nicht nur) des Digitalen

Seite 2: "Artificial Intelligence & Life Art"

Inhaltsverzeichnis

Die Kategorie "Artificial Intelligence & Life Art" ist ein bisschen die Büchse der Pandora. Offensichtlich stehen die Veranstalter vor vielen Einreichungen, die sich einer Kategorisierung entziehen. Früher hieß es mal "Hybrid Art" und wir prognostizieren, dass sich auch der aktuelle Titel ändern wird. Der Gewinner in dieser Kategorie ist "Forensic Architecture", eine international agierende Aktivistengruppe, die es sich zum Ziel gesetzt hat, Menschenrechtsverletzungen aufzuklären, beispielsweise über Spuren an Gebäuden oder in der Umwelt. Schon 2018 wurde mit Bellingcat eine vergleichbare Initiative ausgezeichnet. Es ist definitiv lobenswert, solchen Initiativen Aufmerksamkeit zu schenken, weil jeder Versuch, staatliche Desinformation zu kontern, wichtig ist. Doch können diese Initiativen ebenso schnell Opfer falscher Vereinnahmung werden, denn es ist ja bekanntlich die Wahrheit, die in Gebieten wie Syrien oder Gaza als erste zu Grabe getragen wird.

Mit "The Museum of Edible Earth" von masharu (Maria Rudnaya) wurde eine Arbeit ausgezeichnet, bei der solche Zweifel nicht angebracht sind. Die energiegeladene junge Russin, die in den Niederlanden lebt, ist ausgezogen in die Welt und hat in mehr als dreißig Ländern Erde gesammelt, die von Menschen gegessen wird. Sei es aus spirituellen Gründen, sei es aus medizinischen oder sonstigen – überall hat sie Traditionen gefunden, Erde zu essen. Geophagie ist die wissenschaftliche Bezeichnung der uralten Praxis, die noch in vielen Kulturen ein fester Bestandteil ist. Ihre Funde aus sand-, schlamm- oder steinartigen Proben präsentiert sie in anschaulichen Schälchen und lädt die Besucher zum Probieren ein. Da knirschen viele Zähne ob der ungewohnten Speise. Der eine oder andere Geschmack ist in der Tat bemerkenswert – eine Erfahrung, die unseren Umgang mit der Umwelt, der Erde, ja den Lebensmitteln zu reflektieren einlädt. Im begleitenden Filmmaterial an den Monitoren, berichten Menschen aus allen Kontinenten über die Hintergründe ihres Erdeessens, das im Übrigen auch als Krankheit klassifiziert werden kann, wie Rudnaya schmunzelnd bemerkt.

masharu (Maria Rudnaya) und Adriana Knouf (siehe TX-1 unten) beim Prix-Forum, zusammen mit Jurymitglied Jens Hauser

(Bild: Dorothea Cremer-Schacht)

Tranxxeno lab widmet sich mit "TX-1" einem bisher übersehenen Problem: Wie können die Bedingungen im bewohnten Weltraum so gestaltet werden, dass auch Transpersonen dort leben können. Im Rahmen einer Initiative, Kunstwerke ins All zu bringen, hat Adriana Knouf (US) Proben ihrer Hormonmedikamente und eine winzige gefaltete Papierskulptur zur ISS geschickt und zurückgeholt. Die kleine Glaskapsel wird wie eine Reliquie präsentiert und kann über eine Lupe inspiziert werden. Knouf möchte gerne ihren Körper ins All schicken und hat sich darum auch als Astronaut beworben. Transmenschen seien besonders wichtig im Weltraum, denn schon auf der Erde werden sie als Alien betrachtet, wie Knouf glaubhaft vom Aufwachsen in einer 600-Seelengemeinde in den USA berichtete und das sollte extraterrestrisch nicht so weitergehen.

Die dritte Cyberarts-Kategorie ist die digitale Musik. Doch mindestens bei zwei Preisträgern muss man den Musikbegriff sehr weit dehnen, um das Werk noch in der Kategorie zu sehen. Alexander Schubert (DE) hat mit "Convergence" KI-Algorithmen dazu programmiert, Gesichter zu morphen und zu verändern, wobei die Protagonisten sich teilweise dem Regime der KI unterwerfen mussten (Augen links, Mund auf, …). Die Bilder erinnern an Francis Bacon und die synthetisch klingende Stimme spricht über Loops, Rekursion, Parameter und andere Bestandteile des technischen Prozesses. Die Personen gehören zu einem Musikensemble und das Ganze ist auch mit einem Soundteppich unterlegt. Vermutlich hat die Jury die komplexe Konstruktion des Arrangements besser verstanden als sie sich dem Betrachter erschließt und sicherlich kann man vielfältige Fragen stellen nach der Konstruktion von Wirklichkeit, wie sie sich in neuronalen Netzen im Computer und im Gehirn manifestiert, wir aber hätten das Werk eher in einer anderen Kategorie gesehen, obwohl in einigen Sequenzen tatsächlich Streichinstrumente auftauchen.

Auch "A Father’s Lullaby ” ist eher ein Community- als ein Musikwerk. Rashin Fanhandej (US) beschäftigt sich mit dem Schicksal vaterlos aufwachsender Kinder in den von Schwarzen bevölkerten Gebieten der USA. Ob die Schuld an der Vaterlosigkeit so umstandslos dem amerikanischen Justizsystem zugewiesen werden kann, wie Fanhandej das macht, kann dahingestellt bleiben. Es ist aber unbedingt lobenswert auf das sich reproduzierende Problem aufmerksam zu machen, das immer mehr Menschen an den Rand der Gesellschaft drückt. Alleinerziehende Mütter sind kein nachhaltiges Gesellschaftsmodell. Wiegenlieder sind zwar Musik, aber das Projekt passt hier nicht hin. Nichtsdestotrotz eine sehr sehens- und auch hörenswerte Installation.

"Convergence" ist ein zweimal prämierter Titel. Die Arbeit von Douglas McCausland (US) ist ein klarer Fall für die Kategorie der digitalen Musik. In der Performance für zwei Personen spielte eine einen Kontrabass und die andere manipuliert die Töne über Spezialhandschuhe und verteilt sie auf die Surround-Lautsprecher. Das sieht teilweise kurios aus, ist aber interessant zu sehen, zu beobachten und zu hören.

Musik hat auf der ARS stets noch einen eigenen Raum, mit der großen Konzertnacht, die gemeinsam mit dem Brucknerorchester eröffnet wird und sich mit experimenteller Musik bis spät in die Nacht fortsetzt. Oder wie diesmal während der Eröffnungsveranstaltung mit der sehr intensiven Neuinterpretation von Franz Schuberts Winterreise von Gitarrist und Sänger Oliver Welter und Pianistin Clara Frühstück im Verbund mit den ausgezeichneten Visualisierungen des Medienkünstlers Cori O’Lan alias Gerfried Stocker.

Viele Musikaufführungen werden von Videoimprovisationen begleitet. Diese Kunstrichtung ist immer etwas im Schatten der Musik. Vielleicht war der Grund, dass der künstlerische Leiter der ARS mehrmals selbst die Hand an Joystick und Tastatur legte, dass wir genauer hinsahen. Was früher oft mehr Farbschlieren und tanzende Striche waren, sind heute komplexe animierte Formen, die ein eigenes Leben zu haben scheinen. Sie waren teilweise so faszinierend, dass die Musik zur lautlichen Untermalung der Bilder geriet. Die Kunstdisziplin hat durchaus das Potential einmal in den Mittelpunkt eines Festivals gerückt zu werden.

Erstmals wurde auch der "Isao Tomita Special Prize" vergeben, der in Anlehnung an die japanische Musikerlegende Tomita engagierte Musiker ehren soll. Erhalten hat ihn Khyam Allami (GB) mit Counterpoint (Int) für "Apotome", ein frei verfügbares Online-Werkzeug, das Musikern weltweit einen klanglichen Austausch ermöglicht.

Die von den EU-Preisen bedachten Werke haben uns in der Vergangenheit meist weniger beeindruckt. Es ist in diesem Jahr nicht anders. "Oceans in Transformation", eine Arbeit der Architekten der "Territorial Agency", wurde in der STARTS-Kategorie "Artistic Exploration" prämiert; das Werk untersucht die Veränderungen in den Ozeanen unter den verschiedensten Blickwinkeln und will den Betrachter unbekannte Zusammenhänge entdecken lassen. Doch was wir sehen, sind 25 mannshohe Hochkantmonitore, die in sanften Bewegungen Overlays über Ozeankarten blenden. Das Ganze mit dunkler sphärischer Musik schafft einen wunderbar ästhetischen Raum der verzaubern kann, aber keine der angepriesenen Erkenntnisse erlaubt. Das ist uns auch an anderen Werken zur Datenvisualisierung aufgefallen. Zum Beispiel die Darstellung von 600.000 wissenschaftlichen Artikeln zu Covid-19. Wie eine Milchstraße strahlen die Punkte, die je eine Arbeit repräsentieren im gigantischen Vorführsaal "Deep Space" des Ars Electronica Centers. Doch die Erkenntnis, dass es ein Cluster von 2002/2003 gibt und man lernt, dass es damals schon mal Forschungen zu SARS gab, überwältigt nicht wirklich. Und wenn man das Ganze nur als visuelles Spektakel betrachtet, möchte man doch lieber in den richtigen Sternenhimmel schauen.

Auch die Vergabe der STARTS-Kategorie "Innovative Collaboration" irritiert etwas. Erhalten haben ihn die Designerinnen Anastasia Pistofidou, Marion Real und The Remixers at Fab Lab Barcelona, (Int) die Lebensmittelrückstände verarbeiten, u.a. zu Kleidung. Ihre Stoffkreationen vermitteln jedoch das Gefühl, dass man sie nicht auf der Haut tragen möchte. Vielleicht ein vermeintliches Gefühl – doch bei der Ehrung auf der Bühne trug niemand aus dem Team die als produktionsreif erklärten Hemdchen und Jacken.

Doch ein paar "Etagen" unterhalb der Hauptausgezeichneten stoßen wir auf ein kleines Juwel. Theresa Schubert (DE) hat mit "mEat me" einen Gedanken konsequent fortgesponnen. Ausgehend von dem Übel der Massentierhaltung und den Überlegungen des Posthumanismus, mit denen sich Schubert intensiv auseinandergesetzt hat, stellt sie die Frage, ob wir nicht das Fleisch unseres eigenen Körpers als Nahrung heranziehen sollten. Und diese Frage zu stellen, heißt für sie, es zu tun. Ein Vorhaben, das nicht einfach in der Umsetzung ist. In Ljubljana findet sie mit der Galerija Kapelica einen geeigneten Partner, der ihr einen Schönheitschirurgen vermittelt, der in einer Biopsie ein Stück ihres Oberschenkelmuskels entnimmt. Im Labor der Educell Company for Cellular Biology wird diese Probe dann angezüchtet. Da klassische Nährlösungen auf Tiersubstanzen zurückgreifen, entscheidet sich Schubert für eine eigene Lösung mit von ihr entnommenen Blut, um das In-vitro-Fleisch zu "nähren".

Das ganze Projekt wird von der Künstlerin in einer Life-Performance zelebriert. Da sie sich nicht auf der Bühne operieren kann, zerlegt sie ein Stück Rinderfleisch, während auf dem Bildschirm im Hintergrund die reale Operation abläuft. Im zweiten Teil beschäftigt sie sich mit dem externalisierten Ich. Sie schafft über ein KI-basiertes Sprachsystem einen Dialog mit einer künstlichen Intelligenz, die Texte über Posthumanismus zu eigenen Aussagen verarbeitet, die sie über ein Sprachausgabesystem zurückspielt. Die Life-Performance endet damit, dass sie das gezüchtete Fleisch brät und verzehrt.

Man steht fasziniert, entsetzt und angewidert zugleich davor. Welche der vielen angesprochenen Themen soll man gedanklich verfolgen und darf man eigentlich an dem Kannibalismus-Tabu rühren. Schubert lebt und arbeitet in Berlin, aber die Radikalität mit der sie ihre Ideen vorantreibt, teilt sie mit Künstlern aus der ehemaligen Sowjetzone von denen wir schon häufiger Beispiele gesehen haben, wie die Slowenin Špela Petrič, die wie vor zwei Jahren einen Anerkennungspreis erhält für ein ästhetisches Werk in dem ein Roboter mit einer Pflanze und kleinen Kügelchen spielt. Vielleicht werden derartig avantgardistische Arbeiten in Zukunft noch mehr Sichtbarkeit auf der ARS haben.