Jugendschutz im Netz: Vertrauen ist wirksamer als technische (Pseudo)-Lösungen

Wir dürfen uns nicht damit abfinden, dass Minderjährige im Netz Gefahren begegnen. TR-Kolumnistin Julia Kloiber fordert wirksamere Parental-Control-Ansätze.

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Kind schaut im Dunkeln auf ein beleuchtetes Display

(Bild: Daniel Jedzura/Shutterstock.com)

Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Julia Kloiber

Wir schreiben das Jahr 1998. Ich bin zwölf und sitze im Arbeitszimmer meines Vaters. Ich habe soeben das Modem eingesteckt, denn ich bin zum Chatten mit Freundinnen und Freunden verabredet. Um Punkt 18:00 Uhr betrete ich als julchen.k den fm4-Chat. Noch heute sehe ich das Design vor mir: schwarzer Hintergrund, bunte Nicknames. Meine Freundinnen rebi86 und blueberry55 kommen dazu. Manchmal passiert es, dass jemand in unserem Raum auftaucht, den wir nicht kennen. Diese Momente sind unheimlich und aufregend zugleich. On the internet, nobody knows you’re a dog. Manchmal chatten wir ein bisschen mit dem Fremden oder schließen den Raum schnell. Klarnamen oder Bilder teilen wir nie. Wie auch? Webcam am Röhrenmonitor? Fehlanzeige.

25 Jahre fast forward gibt es einen Begriff für das, was uns damals widerfahren ist: Cybergrooming. Der Begriff steht für Interaktionen, in denen sich Erwachsene im Internet an Minderjährige heranmachen. 2022 gab ein Viertel aller Kinder und Jugendlichen an, Erfahrungen mit Cybergrooming gemacht zu haben. Tendenz steigend. Mit zunehmendem Alter der Jugendlichen wird dieser Anteil größer. Die Kinder und Jugendlichen sitzen mit ihren eigenen Devices im Kinderzimmer. Sie texten, spielen Computerspiele, laden Videos auf Social-Media-Plattformen. Das Internet ist ihr Zuhause. Doch was ist das für ein Zuhause, in dem angeblich an jeder Ecke Gefahren lauern?

TR-Kolumne von Julia Kloiber

Wenn ich mit befreundeten Eltern spreche, dann sind viele überfordert. Aus der Überforderung heraus wünschen sich einige harte technische Lösungen. Die Politik geht darauf ein. In Großbritannien wurde im Oktober ein kontrovers debattiertes Gesetz für Online-Sicherheit erlassen. Das Gesetz sieht vor, dass Webseiten mit potenziell jugendgefährdenden Inhalten das Alter der Besucherinnen und Besucher überprüfen müssen: technische Altersverifikation. In der Realität bedeutet das ein Netz, in dem man sich ständig ausweisen muss. Damit sollen Kinder und Jugendliche geschützt werden. Die Überprüfung des Alters kann via Ausweis oder biometrischer Daten wie zum Beispiel Gesichtsscans erfolgen.

Technische Altersverifikation ist eine Lösung, die nur mit einem sehr verklärten Blick effizient und attraktiv erscheint. Das offensichtlichste Argument dagegen: Jede technische Lösung kann umgangen werden. Gilt die Altersverifikation nur innerhalb nationaler Grenzen und basiert auf IP-Adressen, genügt ein banales VPN. Mit Ausweiskontrollen normalisiert man außerdem das Verhalten, sich ständig gegenüber dem Staat verifizieren zu müssen. Kurz, man normalisiert Überwachung. Mit jeder technischen Lösung im Jetzt werden Ökosysteme der Zukunft manifestiert.

Und Überwachung kennen Kinder und Jugendliche nur zu gut. Kaum ein Kind in meinem Bekanntenkreis wird nicht von seinen Eltern via Smartphone oder Smartwatch getrackt. Eine Freundin, die das Tracking ablehnt, nennt es die digitale Nabelschnur. Der Aufbau von Schutzräumen für Kinder und Jugendliche darf nicht auf umfassenden Überwachungstechnologien basieren, denn Automatisierung kann Fürsorge nicht ersetzen. Fürsorge bedeutet, dass Eltern sich mit ihren Kindern aktiv mit dem Thema Cybergrooming auseinandersetzen und gemeinsam aushandeln und überlegen, welche Maßnahmen sinnvoll sind.

Denn Vertrauen und offene Kommunikation sind wirksamer als jede technische (Pseudo-)Lösung. Gleichzeitig gilt es seitens der Politik, Unternehmen stärker in die Pflicht zu nehmen und wirksamere und einfachere Parental-Control-Ansätze zu entwickeln. Sprich, man muss die Sicherheit vom Endgerät des Kindes aus denken.

Ich bin mit einem freien und offenen Internet groß geworden. Und ich möchte diese Freiheit keine Sekunde lang missen. Ich werde sie verteidigen, auch wenn das bedeutet, dass ich bis ans Ende meines Lebens Kolumnen über Tech-Solutionismus schreiben muss. In diesem Sinne: Stay tuned for more!

(jle)