Embryonale Stammzellen: Wie ist der Stand nach 25 Jahren Hype?

Seite 2: Tabula rasa

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Die US-Ausgabe von MIT Technology Review begleitet das Thema von Anfang an. Schon vor 25 Jahren beschäftigte sich ein großer Artikel mit dem Widerstand von Abtreibungsgegnern gegenüber der Isolierung embryonaler Stammzellen. Das Titelblatt der Ausgabe Juli/August 1998 trug die Aufschrift "Biotech-Tabu" und zeigte eine in der Dunkelheit schimmernde Petrischale.

Cover der Ausgabe MIT Technology vom Juli/August 1998

"Wenn Preise für die faszinierendsten, umstrittensten und geheimsten wissenschaftlichen Aktivitäten vergeben würden", hieß es in dem Artikel, "würde die Jagd nach den embryonalen Stammzellen wahrscheinlich die meisten Preise erhalten." Den Lesern wurde erklärt, dass es sich um die Suche nach einer Art Tabula-Rasa-Zelle handelte – einer Zelle, aus der jeder andere Zelltyp im menschlichen Körper entstehen kann. Eine potenzielle "Fabrik in der Petrischale", die Wissenschaftlern zum ersten Mal "die Möglichkeit geben könnte, menschliches Gewebe nach Belieben zu züchten". Das Tabu der Technik war wiederum, dass die Zellen nur in menschlichen Embryonen im Frühstadium existierten. Und diese mussten aus Kinderwunschkliniken gewonnen werden. Bei der Entnahme wurden sie zerstört.

Einige Monate nach dem Bericht war Schluss mit dem wissenschaftlichen Wettlauf, der Sieger gefunden. Im November meldete James Thomson von der University of Wisconsin, dass er Stammzellen aus fünf Embryonen entnommen habe und diese Zellen in seinem Labor am Leben halten und vermehren konnte. Thomsons Arbeit, ein knapper Dreiseiter in der wissenschaftlichen Zeitschrift Science, enthielt eine Skizze, wie Thomsons Meinung nach Stammzellen zu einem medizinischen Verfahren werden könnten. Überall, wo Organe oder Zellen von Spendern knapp sind, lautete seine Vorhersage, werden Stammzellen "eine potenziell unbegrenzte Quelle für die Arzneimittelforschung und die Transplantationsmedizin bieten", insbesondere indem sie eine "standardisierte Produktion" von spezialisierten Zelltypen wie schlagenden Herzzellen oder glukosesensitiven Betazellen ermöglichen. Der Forscher wies darauf hin, dass einige Krankheiten, insbesondere Typ-1-Diabetes und Parkinson, auf das Absterben oder eine Funktionsstörung eines oder weniger Zelltypen zurückzuführen sind. Wenn diese spezifischen Zellen ersetzt werden könnten, würde dies eine "lebenslange Behandlung" ersparen.

Diese Vision – dass jene Mutter aller Zellen jedes Gewebe ersetzen oder sogar Organe nachwachsen lassen könnte – hat eine ganze Generation von Forschern begeistert. "Das war so nah an Magie, mir ist noch nie etwas Ähnliches begegnet. Eine Zelle, die sich teilt und alles herstellen kann. Für eine Zellbiologin ist das der heilige Gral", sagt Jeanne Loring, emeritierte Professorin am Scripps Research Institute und Mitbegründerin von Aspen Neuroscience, einem Unternehmen, das die Parkinson-Krankheit mit der Transplantation von Dopamin produzierenden Zellen behandeln will. "Das Problem ist: Wie macht man aus ihnen genau den Zelltyp, den man haben will?" Außerdem können Stammzellen, wenn sie im Labor vermehrt werden, Mutationen verstärken, was ein potenzielles Krebsrisiko darstellt: "Das ist der dunkle Teil der Magie."

Das Konzept stand schnell vor einer entscheidenden Prüfung – aber es war eine politische, keine wissenschaftliche. Da Stammzellen aus winzigen, aber lebendigen Embryonen aus der künstlichen Befruchtung entnommen worden waren und diese dabei zerstört wurden, stieß der Durchbruch bei der katholischen Kirche und anderen religiösen Organisationen in den USA und anderswo schnell auf Empörung. Zwei Jahre nach Thomsons Veröffentlichung, also im Jahr 2000, wurde dann George W. Bush zum Präsidenten gewählt. Nun hatten die christlichen Konservativen einen direkten Draht ins Weiße Haus und wollten gleich, dass die Bundesmittel für Forschung an solchen Zellen gesperrt werden. Wissenschaftler, unterstützt von Patientenvertretern, reagierten mit einer eigenen Lobbykampagne. Ja zum Heilungsversprechen, riefen sie. "Ich liebe Stammzellen", war auf Autoaufklebern zu lesen.

Diese Gleichung – Stammzellen gleich Heilung – gab den Leuten das Gefühl, dass der Durchbruch näher war als vermutet. Martin Pera, Redakteur des Journals Stem Cell Reports, einer akademischen Fachzeitschrift auf dem Gebiet, ging voran: In einem Leitartikel in jenem Jahr schrieb er beispielsweise, dass Behandlungen "bald" möglich sein würden, wenn nur Regierung und Wohltätigkeitsorganisationen die Wissenschaft finanzieren. "Damals haben wir uns das alles aber nur eingebildet", sagt Pera heute auf der ISSCR-Tagung. "Denn alles, was wir hatten, waren noch nicht ausdifferenzierte Stammzellen." Timothy Caulfield, Professor für Gesundheitsrecht an der University of Alberta, analysierte später die Nachrichtenlage zum Thema und stellte fest, dass die Wissenschaftler durchweg "verbindliche Aussagen" mit "unrealistischen Zeitvorgaben" gemacht hatten, was Therapien anbetrifft. "Ich mache den Forschern keinen Vorwurf", sagt Pera. "Sie hatten ein Mikrofon vor sich und fünf oder zehn Jahre erschienen ihn nah genug, aber auch weit genug entfernt." Revolutionär und aufregend wurde die Technik dementsprechend präsentiert. "Wenn man das nicht macht, fließt das Geld woanders hin."

Aber die Öffentlichkeit glaubte an diese Zeiträume – und auch an die Geschichte, dass nur fehlende Finanzmittel Heilungsverfahren auf Stammzellbasis im Wege stünden. Nachdem die US-Regierung einige Beschränkungen für die Stammzellenforschung eingeführt hatte – unter anderem durch die Reduktion von Fördergeldern auf die Forschung an kleinen Zellvorräten –, schlugen Patientengruppen Alarm. In Kalifornien wurde 2004 durch die Wahlinitiative "Proposition 71" das California Institute of Regenerative Medicine gegründet. Ein Staatengesetz machte die Stammzellenforschung zu einem "verfassungsmäßigen Recht" in Kalifornien und stellte über einen Zeitraum von 10 Jahren insgesamt 3 Milliarden US-Dollar an Steuergeldern für die Forschung bereit. Bis dahin, sagten die Lobbygruppen voraus, würde sich die Initiative durch zahlreiche neue Arbeitsplätze und Heilungsmöglichkeiten gleich doppelt auszahlen. Allein die Behandlung von Typ-1-Diabetes würde 122 Milliarden Dollar an Insulin- und anderen Kosten einsparen, sagte man. In einem Fernsehspot hieß es, Stammzellen könnten "eine Million Parkinson-Kranke" heilen.

Keines dieser Verfahren ist bisher auf den Markt gekommen. Und viele der Patientenvertreter aus jenen Jahren, von denen einige hofften, dass Stammzellen sie retten könnten, sind jetzt tot: Jenifer Estess, David Ames, der Schauspieler Christopher Reeve und Jordan Klein beispielsweise. Letzterer war der Sohn von Bob Klein, einem kalifornischen Immobilienunternehmer, der Proposition 71 überhaupt erst auf den Weg gebracht hatte. Nachdem Jordan 2016 im Alter von 26 Jahren an den Folgen von Typ-1-Diabetes gestorben war, machte sein Vater dafür laut dem Long Beach Business Journal politische Verzögerungen verantwortlich. "Mein jüngster Sohn ist gestorben. Wenn sie das in Washington nicht aufgehalten hätten, wäre er noch am Leben", sagte Klein der Publikation.

Der Glaube an die Stammzelltherapien hatte sich schnell verfestigt. Für Menschen wie Klein war es politische Einmischung, die sie verzögerte. "In den frühen 2000er Jahren gab es diese dystopische Vorstellung von Stammzellen", sagt Gesundheitsrechtler Caulfield. "Es gab Leute, die sagten, es sei unethisch oder unmoralisch und sollte nicht erlaubt werden." Die Wissenschaft habe reagieren müssen und propagiert, dass die Technik sehr spannend sei und Leben retten werde. "Und all diese Formulierungen haben sich erhalten." Der deutlichste Beweis? Zwielichtige Kliniken, die mit dem Hype um Stammzellen Geld verdienen und Heilmittel für Autismus, Migräne und Multiple Sklerose anpreisen, ein Phänomen, das Caulfied als "Ausbeutung durch Wissenschaft" bezeichnet. Viele Jahre lang konnte man bei einer Google-Suche nach Stammzellen solche Anzeigen von zwielichtigen Kliniken finden, die anboten, so ziemlich alles zu behandeln –in der Regel mit Zellen, die aus Blut oder Fettgewebe gewonnen wurden.